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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Ich kam mit meinem Vater nach Giersdorf; ich wollte ein Versprechen einlösen.“

„O, schweigen Sie davon, schweigen Sie hier davon!“

„Hier am wenigsten,“ versetzte Kurt, „denn ich sehe in diesen Damen zwei Zeugen, die zugegen waren, als Sie mir dies Versprechen gaben, und was hätte ich vor meinen Kameraden zu verschweigen, auf deren Glückwünsche ich rechnen darf? Ja, ich erkläre es hier vor allen und ich habe ein Recht dazu – Leontine von Wallwitz ist meine Braut!“

Ringsum erstauntes, verlegenes Schweigen – was bedeutete das? Alle Blicke richteten sich auf den französischen Offizier, der zornentflammt vergeblich nach dem Degen an seiner Seite suchte.

Leontine raffte sich auf, totenbleich; ihr Auge blickte starr, und wie mit gelähmter Hand etwas Gespenstiges abwehrend, sagte sie dumpf aber fest: „Niemals!“

„Ich habe dich ritterlich erobert,“ rief Kurt, „siehst du hier die Binde um meine Stirn? Mein rechtes Auge hab’ ich drangegeben – beim Kampf um die Schanzen vor Glatz. Mein Freund Friedrich von Benndorf, der Genosse jenes verhängnis- und verheißungsvollen Abends, blieb unverwundet. Und so gehört mir als Siegespreis deine Hand!“

Leontine barg ihr Gesicht in den Händen; es kam über sie ein großes Mitleid mit allem, mit der Welt, mit sich selbst – sie schluchzte. Da war’s, als rührte sie eine eiskalte Hand an, sie hörte die Stimme Edmonds.

„Und was ist denn vorgefallen an jenem verhängnisvollen Abend?“

Was hatte sich der Fremde darum zu kümmern? Kurt wandte sich verächtlich von ihm ab, doch er las die gleiche Frage auf allen Gesichtern.

„Nun, Friedrich und ich, wir warben um die Hand des Fräuleins und es versprach, sie demjenigen zu geben, der zuerst verwundet aus dem Kampfe zurückkehren würde. Ist’s nicht so, Leontine, ist’s nicht so, meine Damen? Ihr Schweigen bestätigt mein Wort: Leontine ist meine Braut oder sie ist eine Wortbrüchige vor Erd’ und Himmel!“

Was Kurt da sagte, erklang ihr wie die Stimme des Gewissens; doch sie wollte nicht darauf hören. Es vermehrte nur die entsetzliche Schwüle dieser Minuten – denn von einer anderen Seite erwartete sie den niederschmetternden Wetterschlag.

Und er fuhr hernieder, der zündende Blitz, und legte ihr Leben in Asche.

„Ist dies alles wahr, Leontine?“ rief Edmond de Granville, „ich bitte, ich beschwöre dich, strafe diesen Herrn Lügen!“

„Ich kann es nicht,“ sagte sie zögernd und flüsternd.

„Bei meiner Offiziersehre,“ versetzte jetzt Edmond, „so gehörst du ihm allein und ich sage mich für immer los von dir!“

„Edmond!“ – erklang’s wie ein Schmerzensschrei von ihren Lippen.

„So hast du nicht nur mit diesem, sondern auch mit mir ein unwürdiges Spiel getrieben, mir Liebe gelogen, wie du ihm dein Wort gebrochen hast! Jetzt hab’ ich nur noch einen Wunsch: eine Kugel für den ‚Spion‘ – sie soll mir willkommen sein!“

„Edmond!“ rief Leontine mit erlöschender Stimme, „o, dich hab’ ich geliebt! Zu spät, zu spät! Laßt mich!“

Sie riß sich gewaltsam los.

„Kunigunde!“

Es klang wie ein Todesschrei von ihren Lippen, und fort stürzte sie durch den kleinen Zwischenhof dem Turme zu. Die Mädchen eilten nach, auch einige Freischärler, doch sie hatte die Thür hinter sich ins Schloß geworfen.

Bald stand sie droben, einer Sturmesbraut gleich, unter krächzenden Krähenschwärmen, die aus den Ritzen aufstäubten, während der erste Donnerschlag des lange schon grollenden Gewitters in allen Thälern und Schluchten ein dröhnendes Echo weckte. Sie ging den Weg, den Kunigunde gegangen, die stolz und übermütig wie sie ihrer Opfer gelacht hatte, bis der Geliebte sich verachtend von ihr wandte, und dieser Weg führte vom Rande des Turmes in die Tiefe des Höllenschlundes.

Noch in der Nacht beim Fackellicht suchte und fand man ihr zerschmettertes Gebein.




Wenige Tage nach diesen Vorgängen kam die Kunde des Tilsiter Friedens und machte dem bewaffneten Widerstande in Schlesien ein Ende.

Edmond de Granville wurde freigelassen. Zwei Jahre verbrachte er, ein düstrer Mann, in den Rebengärten der Provence; dann trat er wieder ins Heer und fiel in der Schlacht von Wagram. Kurt von Rohow lebte unvermählt auf seinen Gütern. Alle seine Lebenslust hatte ihn verlassen. Der alte Wallwitz war ein gebrochener Mann. Daß er sein einziges Kind verloren – es war ein Weh, das er zu überwinden vermochte; aber daß seine Tochter einen Landesfeind geliebt, das konnte er nicht verschmerzen, das schien ihm ein unauslöschlicher Flecken auf der Ehre seiner Familie.

So herrschte hier im Schloß eine nachtdunkle Stimmung. Desto heller war der Sonnenschein, der in das Pfarrhaus von Petersdorf fiel, wo Robert und Klärchen als ein glückliches Paar lebten. Der alte Kommandant hatte seine Zustimmung gegeben, als Robert in der Lage war, für die Verproviantierung der Burg zu sorgen mit Hilfe seiner Stolgebühren und seiner Pfarräcker. Dafür blieb sein Geheimnis gewahrt und Klärchen war für alle seine Tochter.

Der alte Rübezahl war jeden Winter der Mitbewohner des Pfarrhauses. Oft sprachen sie von den Schreckenstagen auf dem Kynast, und wenn Robert auf die neue herzlose Kunigunde schalt, da sagte Klärchen, sich zärtlich an ihn schmiegend: „O, sie war so schön und sie hat heiß geliebt. Um ihrer Liebe willen dürfen wir ihr vieles verzeihen! Nur, daß sie unser liebes, deutsches Vaterland verleugnete – das möge Gott ihr vergeben!“



Blätter und Blüten.



Gesellschaft der Waisenfreunde. Aus früheren Berichten der „Gartenlaube“ ist es wohl den meisten unserer Leser bekannt, daß die „Gesellschaft der Waisenfreunde“, deren Sitz Leipzig ist, sich die Aufgabe gestellt hat, verwaiste und verlassene arme Kinder bei kinderlosen Ehepaaren unterzubringen, falls letztere sich verpflichten, die Kleinen wie eigene Kinder zu erziehen. Die Gesellschaft hat soeben ihren Bericht für das verflossene Jahr 1897 veröffentlicht. Ihr unermüdlicher und opferwilliger Geschäftsführer, Schuldirektor a. D. Karl Otto Mehner in Hartenstein-Stein in Sachsen, kann in demselben zu seiner Freude mitteilen, daß es ihm in dem genannten Jahre gelungen ist, wieder vier Kinder zweckentsprechend zu versorgen, so daß nun innerhalb der 20 Jahre seiner Thätigkeit 86 Kinder durch ihn versorgt worden sind. Der Geschäftsführer hat auch in diesem Jahre verschiedene Reisen unternommen, um sich von dem Wohlergehen der versorgten Kinder zu überzeugen, und konnte durch das Ergebnis seiner Beobachtungen nur erfreut sein. Mögen die Bestrebungen der Gesellschaft auch fernerhin von Erfolg begleitet werden, möge es ihr weiter gelingen, „viele Kinder aus ihrer Armut emporzuheben und liebenden Eltern ans Herz zu legen, den Kindern zum Heile, den Eltern zur Freude“!

Das neue Männerasyl für Obdachlose in Berlin. (Zu dem Bilde S. 227.) Vor fünfundzwanzig Jahren begann der „Berliner Asylverein für Obdachlose“ seine segensreiche Thätigkeit in dem Hause Büschingstraße 4. Im Laufe dieser Jahre wurde dort etwa drei Millionen Menschen Obdach gewährt, aber bei dem steten Wachstum der Großstadt erwies sich dieses Werk der Nächstenliebe unzureichend. Man mußte neue Zufluchtstätten für die Armen und Elenden schaffen. Die Stadt Berlin erbaute darum ein Asyl für obdachlose Familien, während der Berliner Asylverein außer einem Asyl für obdachlose Frauen noch ein neues Asyl für Männer in der Wiesenstraße 55/57 errichtete. – Die Einrichtung des neuen Hauses, das 700 Personen Obdach gewähren kann, muß als mustergültig bezeichnet werden. Der Eintretende findet in der großen, in unserem Bilde wiedergegebenen Sammelhalle, die 400 Sitzplätze enthält, Aufnahme. Von hier gelangen die Aufgenommenen in den Wasch- oder Baderaum. Der letztere enthält 20 Badewannen, 56 Brausebäder und Fußspülapparate; auch ist dafür Vorsorge getroffen, daß die Kleidungsstücke der Badenden während der Badezeit desinfiziert werden. Hierauf sammeln sich die Aufgenommenen in der Speisehalle, woselbst jede Person abends einen Napf Suppe mit einem großen Stück Schwarzbrot erhält. In 14 Schlafsälen mit je 50 Betten ist für die Nachtruhe gesorgt, die um 10 Uhr eintritt. Des Morgens vor der Entlassung werden die Obdachlosen noch mit Milchkaffee und einer Schrippe (Weißbrot) bewirtet. Im Sommer ist der Aufenthalt von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, im Winter von 5 Uhr abends bis 7 Uhr morgens gestattet. Um aber Mißbrauch zu verhüten und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0226.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)