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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Für so gleichgültig und herzlos kann ich ihn nicht halten, den Armen.“

„Arm, ja, das ist er! und überhaupt – eine Armut herrscht in dem Hause, seit sie fort ist, die den andern so viel gegeben hat, daß man sie alle für reich halten konnte … Sie fort! … der Kopf, das Herz, die Seele tot. Warum? warum hat dieses schöne Lebenslicht erlöschen müssen? – Damit ein trübes Flämmchen entfacht werde, das keinem zur Freude und sich selbst zum Leid kurze Zeit hindurch ein armseliges Flackerdasein führen könne auf der Welt … Wer auch da eine weise und gütige Vorsehung anzubeten vermag …“

„Charlotte!“ fiel die Schwester ihr ins Wort. „Ein Menschenauge und Gottes unerforschliche Wege … wie du nur …“

Sie wurde unterbrochen. Auf der Treppe war’s plötzlich laut geworden. Es polterte, es dröhnte, es kam im Sturmgalopp herausgesprengt in nägelbeschlagenen Schuhen. Die Thür öffnete sich, drei rosige, pausbäckige Kindergesichter guckten herein. Die Buben stürzten mit ausgebreiteten Armen auf die Tanten zu und riefen durcheinander:

„Grüß euch Gott, grüß euch Gott, alte Tanten! Wir haben uns schon so gefreut!“

„Ihr kommt aber spät,“ sagte Joseph und hatte auf einmal die Miene eines Richters angenommen.

„Sehr spät,“ wiederholte Leopold voll einschmeichelnder Liebenswürdigkeit, und der kleine Franz stotterte nach mit schwerer Zunge: „Ja, sej spät!“

Ein neuer Ansturm von Zärtlichkeiten bricht los, die Fräulein haben Mühe, ihm standzuhalten. Noch größere Mühe haben sie, nicht auszubrechen in helle Wonnethränen. Ein Vermächtnis der Verstorbenen, diese in den Herzen der Kinder wach erhaltene Liebe zu den alten Verwandten. Den Schwestern ist, als sei der warme leuchtende Frühling hereingebrochen in die trübselige Stube.

Und wie der wirkliche Frühling meistens pflegt, war auch dieser sinnbildliche auf feuchten Sohlen gekommen. Die drei Jünglinge hatten an den ihren pfundschwere Stücke des fruchtbaren Lehmbodens von Belice hereingetragen, und sie selbst waren von unten bis oben mit Lehmspritzern bedeckt.

„Woher kommt ihr?“ fragte Renate, und ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ihr seid voll Lehm, geliebte Kinder.“

Woher sie kamen? Nun, aus dem Meierhof. Im Meierhof wird der Brunnen repariert, da haben sie mitgeholfen.

„Das heißt,“ sagt Joseph, „Leopold und ich haben mitgeholfen. Der Kleine hat sich nur wichtig machen wollen. Immer will er sich wichtig machen. Bei einem Haar,“ und um die Feinheit dieses Haares recht zu bezeichnen, sprach er im höchsten Falsett, „bei einem Haar wär’ er ins Wasser geplumpst. Aber der Brunnenmeister hat ihn noch erwischt.“

„Ueberall plumpst er hinein,“ versicherte Leopold. „Vorgestern in den Teich, weil er eine Katz’, oder wer weiß was, hat herausziehen wollen.“

Joseph lachte: „Und dann hat er sich an einen Baum angehängt und hat sich geschaukelt zum Trocknen.“

Der Kleine hatte den Spott seiner Brüder mit scheinbar philosophischer Ruhe hingenommen. Im Wortstreit zog er immer den kürzeren und pflegte auch meist nur handgreifliche Argumente vorzubringen. Während Joseph und Leopold sprachen, hatte er sie abwechselnd angesehen, als ob er mit sich zu Rate ginge. Plötzlich schoß ein heißer Blick aus seinen dunklen, tiefliegenden Augen, er war entschieden, sprang den Ältesten, Stärksten an und schlug ihm mit der kleinen, breiten Faust, so derb er konnte, ins Gesicht.

Die Tanten erschraken, Joseph zuckte die Achseln. Er hatte den Knirps ausgelacht, der Knirps hatte sich gerächt, jetzt war alles in Ordnung.

Bald daraus herrschte Frieden und die Kinder richteten alles zu einem behaglichen Plauderstündchen ein. Die Glasthür des schmalen runden Balkons wurde geöffnet und Fauteuils für die Tanten zu ihr hingerückt. Sie müssen doch sehen, wie die Bäume des Gartens ihnen „Grüß Gott“ zunicken, und die Aussicht müssen sie genießen, auf den Hostein, auf dem vielleicht schon in einigen Jahren eine große Kirche erbaut werden wird. Der Herr Pfarrer glaubt es, und der Herr Kaplan weiß es bestimmt.

Vom Dorfe her ertönte das Geläute der Aveglocke. Die drei erhoben sich zugleich und verrichteten ihr Gebet, nicht gerade in Andacht hinschmelzend, aber in guter Haltung und mit großem Ernste.

Nachdem die religiöse Pflicht erfüllt war, machte Franz einen Freudensprung, Leopold rief:

„Ach was wir froh sind, daß ihr wieder da seid, liebe Tanten!“ und Joseph versicherte:

„Wir haben, seit die gute Mama tot ist, niemand und niemand.“

Wieso? Sie hatten den Papa. – Ach, von dem Besitz schienen sie nicht viel zu halten! Und mit Elika wird's nächstens aus sein, und der Herr Kaplan und der Lehrer, keins kann eine Geschichte erzählen und ein Märchen schon gar nicht, wie Tante Charlotte fünfzigtausend weiß. Die Poli höchstens so ein paar alte Geistergeschichten …

„Pah!“ Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung - „bei denen einem nicht einmal gruselt.“

Franz hatte die Arme gekreuzt und machte sein trotzigstes Gesicht. Ein Bild der Kraft, das derbe Bürschlein, und komisch der Kontrast zwischen seiner keimenden Männlichkeit und seiner lallenden Sprache: „Gjuselt einen nicht einmal!“

„Aber Kinder,“ meinte Charlotte, „wenn ihr Geschichten und Märchen gern habt, nehmt doch ein Buch und lest!“

Die Buben hoben die Köpfe. Ein Lächeln blitzte über drei Gesichter, ein dreifaches: „Ach nein!“ wurde mehr gegähnt als gesprochen, und Franz erklärte aus seiner eigenen und der Seele seiner Brüder heraus:

„Tante, lesen, das intejessit uns absolut nicht!“

So? und was interessierte sie denn? – Was? – Alles! Sie wurden ungeheuer mitteilsam und schwatzten sich satt. Sie erzählten vom Tod der guten Mama, und wie schön sie im Sarge war. Ihren Ring hat sie am Finger gehabt, und wie man ihr ihn hat wegnehmen wollen, hat der Papa geschrieen, so laut wie er nie schreit: „Lassen, lassen!“ So ist sie mit ihrem Ring begraben worden. Und die Leute haben gesagt: „Die Kleine sollt’ man ihr auch mitgeben, die ist so schwach, die wüßt’ nichts, die möcht’ am Herzen der Mutter einschlafen und im Himmel aufwachen. Aber das ging doch nicht, und man muß warten, bis sie von selbst stirbt, und so lange sie noch lebt, muß man halt alles thun, was sie will. Und wenn man’s einmal nicht thut, o, da wird die Poli gleich grob! Und neulich hat die Kleine fahren wollen und Joseph hat sie gezogen – im Garten, im Korbwagen, und nie war’s der Kleinen schnell genug. So ist Joseph gerannt, immer schneller, immer schneller, bis er umgeworfen hat.“

„Den Wagen?“ rief Renate, „und die Kleine war drin im Wagen?“

„Nein,“ erwiderte Joseph sehr gelassen, „wie ich umgeworfen hab’, war sie nicht mehr drin.“

„Sie ist herausgestürzt und hat sich weh gethan und hat geweint?“

„Weh gethan, ja, sie hat ein ganz kleines, rosenfarbiges Blutstropferl gehabt, da auf der Wange … Aber geweint? o die! gelacht, mich ausgelacht … O die! wie die einen auslachen kann, wie die lustig sein kann!“

Franz hatte so angestrengt nachgedacht, daß es ihm augenscheinlich weh that. Jetzt stieß er einen tiefen Seufzer aus und sagte:

„Sie weiß, daß sie bald sterben muß, da will sie geschwind noch ein bißel lustig sein.“




Einige Tage später sagte Charlotte zu ihrem Neffen: „Lieber Felix, deine Buben sind famose Buben. Sie kennen alle Vögel, Bäume, Pflanzen, jeder von ihnen ist eine kleine wandelnde Naturgeschichte. Sie können ackern, mauern, tischlern, sägen, striegeln, satteln, aber lesen und schreiben können sie nicht.“

Nicht lesen und schreiben? Wie meinte das die Tante? Wie sollten sie nicht lesen und schreiben können, da ihnen der Schullehrer schon seit mehreren Jahren Unterricht giebt? Und so oft Herr von Kosel den Mann zufällig begegnet und ihn fragt: „Sind die Buben brav?“ erhält er zur Antwort: „Sehr brav.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0231.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2016)