Seite:Die Gartenlaube (1898) 0238.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

auf der Bühne der Comédie Française ein Monodram mit Musikbegleitung unter dem Titel „Pygmalion“ aufführen ließ. Er kehrte darin zur antiken Einfachheit zurück, brachte aber als Philosoph den neuen Zug hinein, daß sich die belebte Statue stufenweise ihres Ichs bewußt wird. „Das bin ich!“ flüstert sie bei jeder neuen Wahrnehmung ihres Gesichts, ihres Gehörs und ihres Tastsinnes. Wenn ich nicht irre, ist Rousseau auch der erste, welcher die bei Ovid namenlose Statue „Galathée“ getauft hat. Dieser Name hat sich um so hartnäckiger erhalten, als er falsch geschrieben ist. Die Griechen kannten nur die Nereïde Galateia, um welche der eifersüchtige Polyphem den Hirten Akis erschlug, und schrieben den Namen nie mit einem th.

Von Conradi bis auf Rousseau zählen wir sechs bekannte Opern „Pygmalion“, nach ihm deren neun und den Schluß bilden die französische „Galatée“ (man erlaube uns, das schmarotzende h zu entfernen) von Massé und die deutsche „schöne Galatea“ von Franz von Suppé. Beide erfreuen sich noch heute einer robusten Gesundheit, obwohl die französische Galatée schon sechsundvierzig und die deutsche dreiunddreißig Jahre zählt. Die französischen und die deutschen Textdichter haben die Satire des alten Italieners vervollständigt. Ihre Galatée führt sich so schlimm auf, daß Pygmalion die Götter anfleht, sie wieder zum toten Bilde erstarren zu lassen, und diese dem enttäuschten Künstler den Wunsch gewähren. So wurde aus dem Stoffe, den noch Rousseau mit tiefem Ernst behandelt hatte, eine leichtgeschürzte Operette, und da Suppé in seiner Musik lustiger und ausgelassener ist als Massé, der wenigstens für den Pygmalion eine ernste Barytonarie geschrieben, so verdient die deutsche Galatea den Vorzug vor der französischen, deren scheinbare Ehrbarkeit an Langweile grenzt. Die antike Sage ist in diesen modernen Possen ebenso mißhandelt worden wie Orpheus und Helena in den bekannten Stücken Offenbachs, aber es ist doch noch etwas Poesie übrig geblieben, denn die Belebung der schönen Statue auf den heißen Wunsch des Künstlers wird selbst bei Suppé nicht ganz ins Lächerliche gezogen. Man könnte sich kaum denken, daß seine Galatea anders als durch eine bildschöne Sängerin dargestellt wird, welche für den antiken Faltenwurf gewachsen ist. Die Rolle ist ja auch eigens für die Geistinger geschrieben worden, welche diese Forderung vollständig erfüllte. So hat sich selbst in diesen Possen, die nur geschrieben zu sein scheinen, um über einige Eigenschaften des weiblichen Charakters billige Witze zu machen, der Aberglaube der alten Kyprioten, welche ihren Ahnherrn Paphos von einer belebten Statue abstammen ließen, als fruchtbar erwiesen. Und wer weiß? wenn es sich ein neuerer Komponist einfallen ließe, aus Pygmalion wieder den Helden eines ernsten Musikdramas zu machen, so würde er vielleicht damit durchdringen – hat doch die grausame Parodie des „Orpheus in der Unterwelt“ nicht einmal in Paris den ernsten „Orpheus“ zu töten vermocht, denn im vorletzten Winter rettete das Meisterwerk Glucks nicht nur künstlerisch, sondern auch materiell die Direktion der Komischen Oper durch sechzig gut besuchte Vorstellungen.

Das christliche Gegenstück zu der heidnischen Galatea bildet der Steinerne Gast, der eine Erfindung des erzkatholischen Spaniens ist und dem Molière eine halbe und Mozart eine ganze Unsterblichkeit erworben hat. Es ist kein Zweifel, daß der fromme Mönch Tellez, genannt Tirso de Molina, der im Jahre 1610 als der erste in seinem Stücke „El burlador de Sevilla, ó el convidado de piedra“ den Spötter von Sevilla und den Steinernen Gast einander gegenüberstellte, selbst an die Möglichkeit glaubte, daß ein kaltes Marmorbild belebt werden könne, um einen frechen Sünder, wie es sein Don Juan Tenorio war, zu bestrafen. Er und seine Zuschauer hatten es darum durchaus nicht nötig wie wir, wenn wir den schaurigen Klängen von Mozarts zweitem Finale lauschen, den „Mann von Stein“ als ein Symbol des schlechten Gewissens zu betrachten. Es ist nicht mehr zu ergründen, ob Tellez eine schon vorhandene Sage benutzte oder die höchst drastische Bestrafung seines Bösewichts selbst erfand. Das erstere ist wahrscheinlicher, aber sehr alt kann die Sage kaum sein, denn sie setzt einen Gebrauch voraus, der schon eine stark fortgeschrittene Kultur verrät, den Gebrauch nämlich, auf dem Grabe eines hervorragenden Mannes sein Standbild in ganzer Figur und natürlicher Größe zu errichten. Es ist dabei jedoch zu bemerken, daß die auf deutschen Bühnen übliche Reiterstatue weder von Tirso de Molina, noch von Molière, noch von Daponte und Mozart vorgesehen ist. Sie fällt dem ungeschickten deutschen Uebersetzer von Mozarts Text zur Last, der „O statua, gentilissima del gran Commendatore“ also übertrug: „Herr Gouverneur zu Pferde, ich neige mich zur Erde.“ Solcher Statuenschmuck auf Gräbern ist sogar in unseren heutigen Großstädten nicht allzu häufig und wäre im spanischen Mittelalter unerhört gewesen. Die Sage setzt also bereits den künstlerischen Aufschwung der Renaissance voraus. Don Juan ladet in verwegenem Spotte das Standbild des von ihm ermordeten Gouverneurs zum Abendessen ein. Der Gouverneur nimmt die Einladung an, erscheint in Don Juans Wohnung, fordert ihn umsonst zur Reue auf und zwingt ihn darauf, ihm in die Hölle zu folgen. Heutzutage interessiert uns freilich an der Don Juan-Sage vor allem der Charakter dieses Helden, den man nicht mit Unrecht den Faust der Südländer genannt hat; aber im siebzehnten Jahrhundert machte vor allem seine originelle Bestrafung Eindruck. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit fand der „Burlador de Sevilla“ in und außerhalb Spaniens Verbreitung. Zehn Jahre nach seinem Erscheinen besaß Italien bereits eine eigene Bearbeitung. Im Jahre 1657 brachten die italienischen Schauspieler ihren Convitato di pietra nach Paris, und zwei Jahre darauf ließ ein gewisser Villiers eine französische Bearbeitung als „Le festin de pierre ou le fils criminel“ aufführen. Dieser Mann hatte mit einer solchen Hast gearbeitet, daß er sogar im Titel einen Uebersetzungsfehler stehen ließ. Er machte aus dem italienischen Gast (convitato) ein Gastmahl (festin) und versteinerte auf diese Weise die ganze bunte Gesellschaft, die Don Juan bei seinem Nachtessen um sich schart. Der offenbare Unsinn des „steinernen Gastmahls“ verhinderte jedoch den Erfolg nicht, und der Titel bürgerte sich dermaßen ein, daß Molière, als er im Jahre 1665 für seine eigene Bühne einen „Don Juan“ schrieb, um dem der italienischen Komödie Konkurrenz zu machen, den Fehler absichtlich beibehielt. Schon Molière ist es aber mit dem Steinernen Gaste nicht mehr recht ernst, denn er verdirbt uns absichtlich den schreckhaften Eindruck der Höllenfahrt, indem er den Diener Sganarelle am Schlusse nach dem Verschwinden seines Herrn um seinen rückständigen Lohn jammern läßt. „Mes gages, mes gages!“ ruft er als echte Bedientenseele aus und reißt uns damit aus unseren Illusionen.

Von da an ist der Steinerne Gast nicht mehr zur Ruhe gekommen. Zehn Jahre nach Molières Stück wandelte er über die englische und im Jahre 1700 zum erstenmal über die deutsche Bühne. Ein Ballett von Gluck und fünf Opern gingen dem „Don Juan“ Mozarts voraus, der nun schon hundertundelf Jahre lang alt und jung erfreut und wohl noch lange erfreuen wird. Selbst in Paris, wo man lange Zeit des Molièreschen Stückes wegen zum Werke Mozarts kein rechtes Zutrauen faßte, ist sein Ansehen so groß, daß die beiden Opernbühnen, die Große und die Komische Oper, im letzten Winter den „Don Juan“ fast gleichzeitig wieder aufnahmen und beide ihre Rechnung dabei fanden.

Daß die belebte Statue des Gouverneurs auch heute noch zur Don Juan-Sage gehört und nicht mehr von ihr getrennt werden darf, so sehr auch alle Theatergänger davon überzeugt sind, daß Stein Stein bleiben muß und nicht Fleisch werden kann, geht daraus hervor, daß der ältere Dumas, als er im Jahre 1836 einen Don Juan ohne Steinernen Gast auf die Pariser Bühne brachte, damit Schiffbruch litt. Er versicherte umsonst, daß auch sein Don Juan de Maraña, der am Schlusse seine Frevelthaten bereut und von seinem guten Engel, der die Gestalt einer Nonne angenommen, in den Himmel geführt wird, auf einer alten spanischen Sage beruhe, die ebenso berechtigt sei wie die von Don Juan Tenorio; man fand seine Schwester Martha außerordentlich fad neben dem steinernen Gouverneur und nahm es seinem Don Juan übel, daß er nicht Charakter genug hatte, bis ans Ende ein verstockter Bösewicht zu bleiben. Ganz anders ging denn auch der bedeutende spanische Dichter Zorilla vor, als er acht Jahre nach Dumas den alten Nationalstoff seiner Heimat in einem Versdrama erneuerte. Ihm war es an der einen Statue nicht einmal genug. Er läßt auch die Dona Ines (die Donna Anna der Oper) und ihren Verlobten

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0238.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2020)