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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


zu stürzen. Aber Heideschmied hielt ihn am Arme fest. Alle Wetter! was für eiserne Finger! Und wie mit ihrem energischen Griff die sanft zuredende Weise kontrastierte, in der der Alte sprach:

„Lieber Joseph, ich verstehe tschechisch noch nicht recht, weiß also nicht, was sie sagen. Mög’ es jedoch sein, was es wolle – ich halte es aus.“

„Ihre Sache,“ murmelte Joseph, ballte die Fäuste gegen die Johlenden da draußen und rief ihnen zu: „Wir wachsen schon noch zusammen!“

Und die draußen kicherten, drohten: „Schon noch!“




Am nächsten Tage klopfte während der Unterrichtsstunde ein kleiner Finger ganz leise an der Thür des „Bubenzimmers“. Die arme Kleine war da und bat um Einlaß. Sie erhielt ihn unter der Bedingung, daß sie nicht mucksen werde, sondern ganz still sitzen in der Ecke des Alkoven, hinter dem Rücken der Brüder. Dort stellte Heideschmied einen hölzernen Sessel hin, auf den er Bilderbücher, ein Blatt Papier und einen Bleistift für die Kleine legte.

„Das ist dein Schreibtisch,“ sagte er, und auf einen Schemel deutend, den er vorschob, „das dein Stühlchen, setz’ dich und sei fleißig und störe deine Brüder nicht. Und Sie, wenn sich einer von Ihnen nach ihr umsieht, muß sie fort!“

„Sofort fort,“ murmelte Leopold, und Joseph wiederholte: „Sofort fort!“

Von Stunde an hieß es: „Herr Heideschmied ist so spaßig, er sagt immer: ‚Sofort fort‘.“ Die zwei jüngeren waren bald überzeugt, daß es so sei, und hätten darauf geschworen, und ihnen wollte Heideschmied die Freude an der geistreichen Erfindung nicht verderben. Zu Joseph aber sprach er nach einiger Zeit:

„Sehen Sie, so entstehen Gerüchte. Es ist merkwürdig, wie man im kleinsten einen Bezug aufs größte finden kann. Viel wichtigere Dinge werden mit nicht mehr Grund von viel vernünftigeren Leuten geglaubt und verbreitet und endlich zur Ueberzeugung vieler, ganzer Klassen, ganzer Völker. Verstehen Sie?“

Joseph verstand ihn vortrefflich, aber er hatte für Heideschmied keine andre Antwort als ein geringschätziges Lächeln. Daß der Mann noch da war, daß er ihn trotz der Versicherung, die er Bornholm gegeben, noch nicht weggebracht hatte, empörte und beschämte ihn. Was klebte sich der Mensch im Hause fest? Zeigten seine Zöglinge ihm nicht deutlich genug, daß er ihnen tödlich zuwider war? Er ließ sich alles gefallen – ums Geld. Er war ein fürchterlich armer Teufel, die elende Handtasche, die er bei seiner Ankunft mitgebracht hatte, enthielt sein Hab’ und Gut. Er sagte es den Knaben unbefangen, als sie ihn fragten, wann denn sein Gepäck ankommen würde.

Joseph und Leopold wollten es so weit treiben, daß er endlich werde nachgeben und sich heben müssen. Ein hartnäckiger Kampf entspann sich, den die Kinder mit gedankenloser, blinder Grausamkeit führten, den der alte Mann heldenmütig bestand.

Einmal betraten sie das Schulzimmer mit der Versicherung: „Sie können thun, was Sie wollen, wir lernen heute nicht,“ und Heideschmied sperrte die Thüren ab, steckte die Schlüssel in seine Tasche und erklärte, die jungen Herren würden nicht in Freiheit gesetzt, bevor der Unterricht genommen sei. Und was er sagte, geschah, und jede seiner Drohungen erfüllte er, und mit Gewalt war bei ihm nichts auszurichten, das alte Gerippe war stärker als sie alle drei zusammen. Noch ein Versuch wurde gewagt; sie fanden sich zum Unterricht gar nicht ein, liefen am Morgen fort und kamen erst zu Tische heim. Damals war Herr Heideschmied furchtbar gewesen. Eine ganze Woche hindurch hatte er alles sequestriert, was die Jünglinge freute und womit sie sich am liebsten unterhielten. Kein Behelf zu irgend welchem Spiel war für sie vorhanden, jeder Verkehr mit ihren Lieblingstieren, Tauben, Hunden, Pferden, abgeschnitten. Acht Tage der Entbehrung für einige Stunden der Freiheit, das war ein schlechter Handel, das sahen sogar so elende Rechner, wie die jungen Herren waren, ein. So blieben sie denn nie wieder aus der Schulstube fort. Sie kamen regelmäßig, mit Herzen voll Groll, und von den nichtsnutzigsten Vorsätzen beseelt. Und immer fanden sie einen impassiblen Heideschmied, der sie sehr ernst und ohne den geringsten Anflug von Spott bedauerte, wenn sie ihre Schuldigkeit nicht gethan hatten, und sich durch keinen noch so tückisch ausgedachten, noch so überraschend ausgeführten Streich um seinen Gleichmut bringen ließ. Eine ihm persönlich angethane Unbill bestrafte er nie, und ganz im geheimen vertraute Joseph seinem Bruder Leopold an, daß ihm das eigentlich gefalle, und ebenso geheim gestand Leopold, daß er sich bei den Unterrichtsstunden gut unterhalte. Das alte Gerippe erzähle hübsch und bringe einem die verfluchten Lernsachen recht angenehm bei.

„Thut nichts, fort muß er doch!“ rief Joseph. „Ich geb’ ihm keine Ruh’. Heute sollen ihm die Knochen scheppern, wenn er sich an den Lehrtisch setzt.“

„So? Was hast gethan?“

Das war nun ein Hauptspaß. Joseph hatte die vorderen Beine von Heideschmieds Sessel angesägt. Der Lehrer erschien, wie immer zur Stunde, lebhaft und freundlich und leitete den Unterricht mit den Worten ein:

„Wir beginnen heute ein hochinteressantes Kapitel unserer Geschichte. Die Thronbesteigung Karls des Fünften, meine Herren!“ Er setzte sich und brach mit schrecklichem Gepolter nieder.

Aus drei jungen Kehlen erscholl ein triumphierendes Gelächter: „Thronbesteigung! schöne Thronbesteigung …“

Im nächsten Augenblick aber schon verstummten die Kinder.

Herr Heideschmied war mit der ganzen Wucht seines großen, schweren Körpers, den Kopf voraus, auf die scharfe Kante eines Tischfußes gestürzt und hatte sich die Oberlippe buchstäblich durchgeschnitten. Die Wunde blutete reichlich und sah ganz abscheulich aus. Die Knaben waren betreten, Joseph geriet in Versuchung, eine Entschuldigung wenigstens anzudeuten, aber er genierte sich vor seinen Brudern. Heideschmied stand auf, preßte das Taschentuch an den Mund, und Joseph fühlte mit quälender Scham, daß der Alte ihn mit einem Blick durchschaute.

„Wie gut, daß die Kleine noch nicht da ist,“ sagte Heideschmied. „Sie wäre gewiß erschrocken. Ich werde heute nicht vortragen; nehmen Sie das Buch, Joseph, und lesen Sie.“

Der Verwundete blieb eine Zeit lang auf flüssige Nahrung angewiesen und wurde noch magerer.

In seinen Zöglingen aber regte sich ein der Reue sehr verwandtes Gefühl. Der „Hauptspaß“ war bei weitem nicht so lustig ausgefallen, als sie erwartet hatten, und überdies folgte ihm ein für sie beschämendes Nachspiel.

Als Heideschmied zum erstenmal mit seiner vom Arzt zusammengenähten Lippe bei Tisch erschien und die Tanten voll Teilnahme fragten, was ihm geschehen sei, antwortete er einfach: „Ich bin gestürzt.“

Die Gesichter der zwei Jüngeren erglühten, Joseph wurde blaß und stierte auf seinen Teller nieder.

„Ich war schuld, daß“ … stieß er hervor, wurde aber durch Heideschmied unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sprach: „Kein Wort, Joseph, ich bitte Sie.“ Die Tanten merkten, daß es sich um eine interne Angelegenheit des Schuldepartements handelte, und schwiegen aus Diskretion.

Herr von Kosel merkte nichts.

Nach Tische waren Joseph und Franz im Garten mit der Herstellung eines riesigen Drachen beschäftigt, den die Spätherbststürme wie einen Adler in die Wolken tragen sollten. Elika sah ihnen bewundernd zu, Leopold lief hin und her, von einem quälenden Gedanken besessen. Auf einmal blieb er vor den andern stehen und schrie:

„Sehr unangenehm! Sehr unangenehm!“

Seine Brüder fragten nicht „Was?“, hoben die Köpfe nicht. Joseph murmelte: „Anständig war er. Verflucht anständig!“

„Das ist wahr, er klatscht nicht,“ sagte Franz, der im achten Jahr endlich gelernt hatte, das R deutlich auszusprechen.

Eines Abends nach dem Souper lud Herr Heideschmied Joseph zu einer kleinen Besprechung ein. Der Alte hatte die feierliche Miene eines Menschen, der im Begriff steht, einen ernsten, lange überlegten Entschluß auszuführen. Joseph folgte seiner Aufforderung mehr noch aus Neugier als aus Gehorsam.

(Fortsetzung folgt.)     



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