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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Tonette starrt ihre Schwester an mit offenem Munde, sie weiß ja nichts von dieser Einladung. Edith aber ist jetzt auf dem Gipfel ihrer Fassungslosigkeit angelangt, sie weiß, in dieser Beziehung versteht auch Tante Tonette keinen Spaß, und die junge Frau hat schon lange vergeblich gesonnen, unter welchem Vorwand sie der Tante gegenüber die Einführung Edi Waldenbergs bewerkstelligen soll, für den Fall nämlich, daß er der Einladung folgen würde.

„Ich verstehe nicht,“ stottert endlich Tonette.

„Nun, die glückliche, verhätschelte Herrin des Hauses hat ihren Mann zu bestimmen gewußt, den Edi Waldenberg einzuladen – wenn ich nicht irre – ihren alten Courmacher von Anno dazumal.“

„Edith!“ schreit Tante Tonette, „nimm’s nicht übel, das ist allerdings stark! Den Edi? Bist du verrückt geworden?“

Edith steht jetzt mit gekreuzten Armen an einem Rokokoschränkchen, dicht neben der mit einem Brokatvorhang verschlossenen zeltartigen Draperie, welche die Mündung der Wendeltreppe maskiert, die in Antons Zimmer hinunterführt. „Es ist zum Erstaunen, Tante Josepha, wie geschickt du harmlose Thatsachen zu Verbrechen zu stempeln verstehst,“ sagt sie noch ruhig, „mein alter Courmacher? Es wäre viel richtiger gewesen, wenn du ihn den gemeinschaftlichen Jugendfreund von Ma und mir genannt hättest, den wir gern wiedersehen wollten.“

Aber Tante Josepha läßt sich nicht irremachen. „Wenn deine Freundin Sehnsucht nach ihm verspürte,“ giebt sie zurück, „so mag sie ihn in ihrem Hause empfangen, das ist ja dann ihre Sache. Du aber hast nicht das Recht, auf diese Weise dich für die Langweiligkeit deiner Ehe schadlos zu halten! Du bist gar kein harmloses Kind, Liebste, warst es nie und weißt sehr wohl, was für Konsequenzen aus solchem Wiedersehen entstehen können, ich sage – können; das müßte dir genug sein, um es zu vermeiden! Und deinen blindlings ergebenen Mann zu bestimmen, dir ahnungslos behilflich zu sein, einem nur zu berechtigten Verdacht Thor und Thür zu öffnen in seinem eigenen Hause, das ist denn doch – nimm’s nicht übel – eine Harmlosigkeit – wir wollen’s so nennen – die auch einen minder Unbefangenen wie mich zweifeln lassen kann an dir! Ich denke, du –“

Sie verstummt, denn Edith ist wie eine Tolle auf sie zugekommen und steht mit zitternden Gliedern vor ihr. „Was erlaubst du dir, Tante?“ ruft sie mit einer grellen Stimme, „wie kannst du es wagen, mir solche Motive anzudichten für das harmlose Verlangen, einmal wieder fröhlich zu sein mit einem Menschen aus jener Zeit, da man noch glücklich war? Ich dulde solche Beschimpfungen nicht! Ich bitte dich, verlasse mein Haus, auf der Stelle verlasse mein Haus, wenn du nur gekommen bist, mich zu beleidigen! Du hast keinerlei Grund dazu.“

„Um Gottes nillen,“ ruft Tante Tonette und zieht Edith am Arm, „schrei doch nicht so, sprich doch leise! Josepha, du reizest sie ja immerfort – ich begreife dich nicht! Edith hat sich das zu wenig überlegt mit der Einladung, es war gewiß kein böser Gedanke dabei, nicht wahr, Edith? Gutes Kind, beruhige dich nur.“

Aber Edith stößt sie zurück und wiederholt noch einmal: „Gar keinen Grund hast du! Verbissen und neidisch bist du und warst es stets.“

„Keinen Grund?“ fragt Josepha aufstehend, um das Zimmer zu verlassen, und die jahrelang aufgesammelte Bitterkeit über Ediths Heirat bricht mit ungestümer Gewalt hervor. Die Hand schon auf der Thürklinke, sagt sie: „Ich dächte, die Präliminarien deiner Heirat wären ausreichend genug, um dir ein gerechtfertigtes Mißtrauen entgegenzubringen. Wer einmal einen Mann auf freventliche Weise an sich zieht, zieht auch wohl noch den zweiten an sich; diejenigen, die dabei geopfert werden, kümmern dich wenig, scheint’s.“

„Das soll heißen, daß ich Anton von seiner Pflicht abwendig machte?“ keucht Edith, „Ich?“

Josephas Kopf in dem schneeweißen Blondenhäubchen neigt sich. „Ja!“ sagt sie kurz. „Wer sonst?“ Und nun will sie gehen, fühlt sich aber am Arm zurückgerissen.

„Du bleibst!“ fordert Edith, „denn ich will auch einmal etwas erzählen!“ Ihre Stimme ist schrill vor Erregung; die herzueilende Tonette schier verächtlich beiseite schiebend, schreit sie mehr als sie spricht: „Ich war ein thörichtes Kind, ja, möglich auch, daß ich gefehlt habe, indem ich mich bemühte, ihm zu gefallen! Ich fürchtete mich vor der Armut, vor dem Entbehren, und außerdem liebte ich den Edi, jawohl, den Edi – ganz aussichtslos liebte ich ihn! Von der Heiligkeit der Ehe hatte ich oft gehört, aber wenig genug gesehen bisher, und das Romanlesen mag ja auch mitgespukt haben in meinem Kopfe. Schön – ich that also unrecht, mit Mohrmann ein kokettes Spiel zu beginnen, aber ich kam zur Besinnung, als das Wasser mir über dem Kopfe zusammenschlug, als ich Edi wiedersah. Ich wollte mich retten, wollte zurücktreten, mir kam es ganz entsetzlich vor mit einem Male, diesen großen Menschen mit den ernsten, bekümmerten Augen heiraten zu müssen, ohne einen Funken von Liebe meinerseits. Aber da stand Tante Tonette am Ufer und stieß mich wieder hinein ins Wasser mit spitzen Worten und weisen Ratschlägen! Sie ist die Schlechte, meine liebe Tante Josepha, ihr halte deinen Spiegel vor! Ich kann offen und ehrlich sagen, ich habe Mohrmann nie geliebt, liebe ihn auch heute noch nicht, ich habe mich einfach für euch und für Wartau geopfert, und alles, was ich Unbegreifliches thue, thue ich, um zu vergessen, daß ich meine Liebe, meine Jugend vertrauere und versauere um ein bißchen äußeren Glanz. Und ich werde weiter thun, was ich will, was ich für recht halte, auch wenn ihr die Hände darüber ringt, denn ihr – was wißt ihr von dem, was ich leide, wie es mir zu Mute ist bei dieser Komödie, die ich täglich und stündlich spielen muß?!“

Sie hat die letzten Worte fast schreiend hervorgestoßen; sie ist völlig außer sich, ohne einen Funken von Ueberlegung. Nun wendet sie sich ab und sucht die angrenzende Schlafstube auf, die Thür hinter sich zuschmetternd.

Und Josepha sieht nach diesem stolzen Abgang mit den eingesunkenen grauen Augen ihre fassungslose Schwester an und nickt mit dem Haupte. „Ja du,“ sagt sie leise, „du! der größte Teil der Schuld ist dein!“ Und nun geht auch sie und läßt die zitternde große Person zurück, die noch immer nicht begriffen hat, was eigentlich geschehen ist, wie sie eigentlich kam, diese schreckliche Scene. Sie hätte es verhindern müssen, das Kommen Josephas; sie hatte eben so ganz den starren unbeugsamen Stolz der Wartaus vergessen, den diese erbte, der schon so oft zu Konflikten führte; sie hatte gemeint, die wohlige behagliche Lust, der Ueberfluß in den Räumen des vielgeliebten Stammsitzes werde auch der Schwester Vorurteil verwandeln in dankbare Zufriedenheit, wie das ihre.

Sie geht mechanisch an ein Nebentischchen, trinkt ein Glas Wasser und überlegt. Nach einem Weilchen ist sie beinahe beruhigt: ein gründlicher Meinungsaustausch im intimsten Kreise, na – darum ändert sich noch nichts an allem; Edith wird sich beruhigen, Josepha wird abreisen, und sonst – es hat ja sonst niemand gehört! Anton ist eben noch mit Heine fortgegangen, das heißt – rechnet sie nach – vor dreiviertel Stunden etwa. Die große korpulente Gestalt schiebt sich aber doch, wie von einer Ahnung getrieben, unhörbar über den Teppich nach dem Zeltchen hinüber. Die fatale Wendeltreppe, an die hat sie nicht gedacht! Behutsam lüftet sie den Vorhang und fährt dann entsetzt zurück – „Mohrmann!“ stammelt sie.

Er sitzt auf der obersten Stufe der vergoldeten schmiedeeisernen Treppe und hat den Kopf in die Hände geborgen, sein Rücken ist wie im Krampf zusammengezogen, ein Bild vollständigster Verzweiflung.

„Mohrmann!“ schreit die alte Dame jetzt laut, „liebster, bester Mohrmann!“

Da richtet er sich auf, und ohne sich nach ihr umzusehen, geht er, sich fest an das Geländer klammernd, hinunter, schwankend, als sei er trunken.

„Barmherziger, was soll nun werden?“ schluchzt Tante Tonette, und sie steigt hinauf in ihr Zimmer, wo Josepha mit dem stillen hochmütigen Gesicht am Fenster sitzt, das geballte Taschentuch in den nervös zuckenden Fingern.

„So!“ ruft Tonette und wirft sich, außerstande, ihre Angstthränen zu unterdrücken, ins Sofa, „so, nun ist das Unglück vollkommen! Mit deiner Moralpredigt hast du es heraufbeschworen – Mohrmann hörte alles, was Edith da schrie in ihrem sinnlosen Zorn.“

Josephas Augen erweitern sich einen Augenblick schreckhaft, dann wendet sie den Kopf wieder zum Fenster. „Er wäre so wie so gekommen über kurz oder lang, der Krach,“ murmelt sie.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0284.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2020)