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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ein paar Deka ab- statt zugenommen hatte, wäre es gut, einige Monate unter den Augen einer ärztlichen Celebrität zu verbringen.

So zog die Familie nach Wien und blieb dort vollzählig bis zum Frühling. Länger hielt Kosel es in der Stadt nicht aus. Auf Elika waren die Augen der ärztlichen Celebrität ohne Wirkung geblieben. Sie kam ebenso blaß, schmal und zart heim, als sie abgereist war. Heideschmied und die Knaben blieben in Wien und trafen erst zur Ferienzeit im gelobten Lande Velice ein. Leopold hatte die dritte, Franz die erste Gymnasialklasse absolviert. Joseph war wieder durchgefallen. Der vierzehnjährige Mensch, der aussah wie ein siebzehnjähriger, der Prachtbursche, der einen so klaren Verstand hatte, und so vieles konnte und wußte, was sich nicht erlernen läßt, war nicht imstande, in seinen hellen Kopf hineinzubringen, was Tausende dummer Jungen von zwölf Jahren in ihren Schädeln beherbergen.

Eine gute Frucht trug die Wiener Expedition aber doch; die Familie machte die Bekanntschaft Frau Heideschmieds und das war ein wirklicher Gewinn. Die unansehnliche kleine Frau mit den müden Augen, der zierlichen Gestalt und den abgearbeiteten Händen gewann alle Herzen und wurde als zukünftige Erzieherin Elikas nach Velice mitgenommen.

Als Joseph dahin zurückkehrte und schon am ersten Tag nach Valahora eilte, fand er das alte Haus herrenlos. Bornholm hatte sich auch in diesem Jahre vergeblich erwarten lassen. Hingegen traf in einem anderen alten Schlößchen eine sehr liebe Nachbarin ein.




„Die drei V“, Velice, Valahora, Vrobek, liegen nahe beieinander an der breiten und gut erhaltenen Landstraße, die sich fast immer auf- oder absteigend zwischen Feldern, Obstgärten, Wiesen und Wäldchen meilenlang an den Ausläufern der Beskiden hinzieht. Das stattliche Schloß Velice weithin sichtbar im Bouquet seiner Gärten, rechts und weiter ab vom Verkehr das düstere Valahora, und kaum eine Viertelstunde davon entfernt das kleine Vrobek. Jetzt nicht mehr größer als ein Bauerngut, aber geziert mit einem köstlichen Wohnhaus im Zopfstil, einem Kleinod. Allerdings nur noch für den Antiquar; dem Unkundigen gar zu alt und verfallen. Den Besitzern hatten längst die Mittel gefehlt, das hübsche Bauwerk in gutem Stand zu erhalten. Ihr geringes Vermögen war bis auf einen Bruchteil durch das lange Siechtum der alten Leute aufgezehrt worden. Sie hatten, von ihrer Tochter begleitet und gepflegt, ihre letzten Jahre fern von der Heimat im Süden zugebracht und rasch nacheinander in einem Städtchen Welschtirols ihr bißchen Leben ausgehaucht.

Verwaist kehrte ihr einziges Kind, die letzte der jüngeren Linie Kosel, nach Vrobek zurück. Seelenallein kam sie von der Bahnstation in dürftigen Trauerkleidern. Sie klopfte an die Thür des Bürgermeisters, der auch Pächter ihres Gütchens und Hüter ihres Hauses war.

„Ich bin wieder da, Bürgermeister, und melde mich.“

Er betrachtete sie eine Weile, sein Blick ruhte auf ihrer feinen Gestalt, ihrem freundlichen lieblichen Gesicht. „Ja, Sie sind’s,“ sagte er dann, nahm die Pfeife aus dem Munde und steckte sie noch brennend in die Rocktasche: „Also, wenn Sie’s sind, herzlich willkommen! Wollen Sie ins Schloß, gnädiges Fräulein, so hole ich die Schlüssel.“

„Ich bitte, Herr Bürgermeister.“

Er begleitete sie. Der kleine Garten, der das Haus umgab, war eine Wüstenei geworden. Von dem Lattenzaun standen nur noch einzelne Stücke sozusagen aufrecht, der größte Teil hatte sich morsch und müde ins Gras gelegt und war unter ihm und üppig wucherndem Unkraut verschwunden.

Vor der Hausthür blieb Luise zögernd stehen: „Wie sieht’s da drin aus?“ fragte sie – ihre Augen lächelten, aber die ausdrucksvollen Lippen verrieten eine schmerzvolle Spannung, eine tiefe Wehmut.

„Wie halt immer. Viel Fledermäus’. Aber die sind gut gegen das Ungeziefer.“

Er schloß auf und ging voran, um auch den Fensterladen und das Fenster in der kleinen achteckigen Halle zu öffnen, von der aus die Treppe ins obere Geschoß hinaufführte. Licht und Luft drangen herein, liebe Heimatluft, liebes, heimatliches Sonnenlicht. Es beleuchtete grell alle Risse in den Mauern, alle klaffenden Lücken in den Kapitälen, Kanten, Sockeln, Verzierungen der Pilaster und die Schadhaftigkeit der Treppe und ihres Geländers und die Wellenlinien des Deckengewölbes.

Er war eben aufrichtig wie ein Freund, der geliebte Sonnenschein, brachte die Wahrheit an den Tag, vertuschte nichts.

Der erste Besuch, den Luise am folgenden Tage machte, galt den Verwandten in Velice. Man empfing sie mit offenen Armen, und was das Haus vermochte, wurde ihr von den Tanten zur Verfügung gestellt. Aber – sie war gewohnt, selbst eine Stütze zu sein. Sie nahm Hilfe von andern, auch von den Teuersten, Verehrtesten, nur ungern und zögernd an. Am liebsten half sie sich doch selbst, hantierte mit Nadel und Schere, mit dem Hammer und der Leimpfanne und auch mit der Maurerkelle, und gar oft ersparte die Axt im Haus den Zimmermann.

Zwei Gehilfen standen ihr bald zur Seite. Eine rüstige, von Charlotte empfohlene Magd und Neffe Joseph, der ihr vom ersten Tag an einen Kultus der Begeisterung und Bewunderung widmete. Wie vom Himmel war sie ihm gefallen, diese Tante, deren er sich kaum noch erinnerte, an die er nie gedacht hatte. Und wenn er es gethan hätte, ihm wäre doch nicht in den Sinn gekommen, daß eine Tante auch jung und hübsch sein könne. Nun war ihm eine solche beschert worden, und – o guter Gott! – er durfte sich ihr nützlich machen, sich vor ihr in seinem Glanze zeigen und mehr sein in ihren Augen als ein durchgefallener Schuljunge. Er setzte seinen Ehrgeiz darein, ihr verwahrlostes Heim in ein behagliches und trauliches zu verwandeln. Er verstand den Taglöhnern Eifer einzuflößen, gab den Werkleuten Handgriffe an, auf die sie von selbst nicht gekommen wären, war unerschöpflich an guten Einfällen, unermüdlich in ihrer Ausführung.

„Wenn ich dich nicht hätte, was würde ich anfangen?“ sagte sie oft, und dann war er glückselig für den ganzen Rest des Tages und darüber hinaus und so lange, bis sie ihm wieder etwas Liebes sagte.

Fast täglich kamen die Tanten herüber und staunten über die Thätigkeit, die entfaltet wurde, und beteiligten sich nach Kräften an ihr. Renate nähte Kapuzen aus hübschem Kattun für die gänzlich verschlissenen, seidenen Ueberzüge der Sitzmöbel, und Charlotte übernahm die Tapeziererarbeit und wurde einmal sogar überrascht, wie sie auf eine Leiter stieg, um einen Fenstervorhang zu befestigen.

Auch Kosel fand sich manchmal in Vrobek ein, warf zerstreute Blicke umher, schien nichts zu sehen und sah doch hier und da etwas. Er hielt auch kleine Vortrüge über die Nützlichkeit gut gebohnter Fußböden und undurchlässiger Dachdecken. Einmal durfte Elika ihn begleiten und sie kamen zu dem kleinen Hof am Ende des Gartens, der einst einen Meier, eine Kuh und einige Schafe beherbergt hatte. Auch ein Paar Pferde war damals vorhanden gewesen, die der Meier an Wochentagen in der Wirtschaft verwendete und Sonntags vor die Kalesche spannte. Er selbst schlüpfte dann in einen kurzschößigen, graumelierten Frack mit Wappenknöpfen, die einst versilbert gewesen waren und nur einiger Ermunterung bedurften, um wie Gold zu glänzen, und kutschierte seine Herrschaft nach Velice in die Kirche. Eine eigene Kirche besaß Vrobek ebensowenig wie Valahora.

Kosels Jugenderinnerungen erwachten beim Anblick des Miniatur-Meierhofs mit seltener Lebhaftigkeit.

„Da sind Pferde gestanden,“ sagte er zu seiner Tochter und deutete auf die leeren Stände. „Mit denen sind dein Großonkel und deine Großtante zur Kirche gefahren.“ Und nun spann er seine Erzählung in Gedanken weiter. Er war als Kind angewiesen worden, dem alten mürrischen Onkel und der Tante, die ihn immer so ungut ansah, unter dem Kirchenthor das Weihwasser zu reichen. Er besann sich, wie es ihn durchfröstelt hatte, wenn die steifen kalten Finger der beiden Alten die seinen berührten. Als großer Junge noch hatte er eine unüberwindliche Scheu vor den einzigen Menschen gehabt, die ihm nie einen freundlichen Blick gegönnt. Und als Luise zum erstenmal in die Kirche mitgenommen wurde, und ihr hübsches, kluges Kindergesicht glückselig lächelnd hinter dem Elternpaar hervorgeguckt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0298.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2020)