verschiedene: Die Gartenlaube (1898) | |
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Halbheft 11. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Elika hatte ihr achtes Jahr erreicht, wuchs in die Höhe und
blieb dabei beunruhigend zart und schmächtig. Nicht oft
gab es einen Tag, an dem sie ohne Kopfschmerzen blieb, kam
aber einmal einer, dann entschädigte er sie für eine lange Zeit
der Leiden; eine ungewohnte Erscheinung trat ein –
die arme Kleine war seelenvergnügt.
„Ich hab’ nicht gewußt, wie gut das ist, vergnügt sein,“ sagte sie zu Joseph und brachte es nach und nach dahin, sich durch körperliche Schmerzen die Laune nicht verderben zu lassen.
Den Gedanken, daß sie früh sterben werde, gab sie nicht auf. Er war ihr immer noch lieb. Sie spielte mit ihm, dichtete an ihm herum, stellte sich vor, wie der Abschied von Papa und von den Tanten, von den Brüdern und von den Hausleuten sein werde. Sie wollte an jeden einzelnen rührende Worte richten und sterben bei offenen Fenstern im Schein der aufgehenden Sonne, wie eine Heldin und wie eine Heilige.
Ihr Lerneifer hatte sich abgekühlt, seitdem sie des Lesens und Schreibens kundig war. Unter allen Gegenständen, die ihr Heideschmied in unnachahmlich liebenswürdiger und den Wissensdurst reizender Weise vortrug, liebte sie nur Geschichte, und besonders die alte, die der Sagenzeit am nächsten ist. Ihr Gebiet, das Daheim ihrer Träume, war das Märchen. Ein wonniges Glücksgefühl durchdrang sie, wenn sie vor dem Gartenhause, indem ihre Puppen verblichen und verstaubten, unter den alten Erlen auf und ab ging wie eine kleine Schildwache, ihr Buch in der Hand, und Märchen las. Mit größtem Entzücken die des alten französischen Märchensammlers Perrault. Sie hatte in wenigen Monaten von Frau Heideschmied französisch sprechen und lesen gelernt.
O Prinzessin Gracieuse, o Prinz Percinet, wie wurdet ihr geliebt! Wie wurdest du gehaßt, elende Fee Grognon! Und du Holde mit den goldenen Haaren, und du blauer Vogel und du gelber Zwerg, welche Gefühle der Lust und Unlust erwecktet ihr! … Und du guter dummer Königssohn mit der ellenlangen Nase, die sich in eine wohlproportionierte nicht verwandeln durfte, ehe du sprachst: „Ich seh es ein, meine Nase ist zu lang!“ wie wurdest du verspottet! O lachen und weinen, gesegnete Qual seliger oder gruseliger Erwartung, die dadurch nicht im geringsten vermindert wurde, daß die eifrige Leserin ihre Bücher, die unerschöpflichen Quellen all der Wunder, fast auswendig wußte.
Wenn die Brüder von der Lehrstunde kamen – und ihr erster Weg führte
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0325.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)