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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Ganz verdutzt hebt die kleine dicke Person den Jungen auf und reicht ihn dem Herrn über die Hecke.

„Willst du mitkommen, Lothar?“

„Ja, und mein Pferdchen –

„Nein, das bleibt hier; Papa trägt dich.“

„Gottchen, Herr Mohrmann,“ stottert die Alte.

„Ich bringe ihn schon zur rechten Zeit wieder,“ beruhigt er sie, „komm’, Lothar.“ Er setzt das Kind zur Erde, und es an der Hand führend, wandert er den Feldweg hinauf. Es geht ein wenig langsam, und deshalb nimmt Anton das Kind auf den Arm. Das dunkle Lockenköpfchen schmiegt sich so dicht an seine Wange, die klugen Kinderaugen sehen ihn ernsthaft und erstaunt an, und das Aermchen schlingt sich so vertrauend um seinen Hals. Dem verbitterten Mann funkeln plötzlich ein paar Thränen in den Augen. „Hast du Papa lieb?“ fragt er.

Das Kind nickt, ohne seinen Blick von ihm zu lassen. „Papa lieb,“ wiederholt es.

„Mein Junge!“ murmelt Anton, „mein lieber kleiner Bengel!“ Wie ein Vorwurf dünkt es ihm, daß er sich seinen Kindern so entzogen, so wenig um sie gekümmert hat.

„Papa ist dir auch gut, mein Kerlchen; wir sind uns beide gut, nicht wahr?“

Wieder das stumme Nicken, und dann die langsam gesprochenen Worte: „Meine Mama fort – warum ist meine Mama fort?“

Anton erschrickt; hat jemand ihm das eingelernt? „Wer hat das erzählt, Lothar?“ erkundigt er sich.

Aber statt der Antwort spricht der Kleine weiter: „Kommt meine Mama wieder?“ Und dabei sieht er noch immer unverwandt in seines Vaters Augen mit dem ernsthaften fragenden Kinderblick.

„Möchtest du, daß sie wiederkommt?“ sagt Anton leise.

Aber Lothar steckt das Fingerchen in den Mund und antwortet nicht. Nachdenklich trägt Anton seine leichte Last weiter: ob sich solch Kind wirklich schon sehnen kann? Ob es nicht etwas entbehrt, das ihm nie ersetzt werden wird, und bestände die ganze Liebe dieser Mutter auch nur aus einer gelegentlichen Liebkosung? Kann es nicht später einmal fragen: warum vertrugt ihr euch nicht miteinander – um meinetwillen? Er fühlt, wie ihm die Schweißtropfen auf der Stirn perlen, er keucht fast. Warum kam sie nicht? Er hat’s ihr ja freigestellt? – –

Ach ja, gebeten will sie sein! Nein, nimmermehr! Nimmermehr! Der Großmütige, der Klügere sollte nachgeben, hat die Stiftsdame am Weihnachtsabend traurig zu ihm gesprochen, aber es ist ihm nur so an den Ohren vorüber geweht, er hat kaum darüber nachgedacht. Nein, nein, nie! Und was sollte überhaupt aus dem Zusammenleben werden? Eine nicht auszudenkende Qual! Er fühlt, er würde schlecht, würde charakterlos werden. Nein, da müßte das Schicksal eine sonderbare Auskunft ersinnen, wenn er es ertragen sollte, sie neben sich zu haben. O nie, nie! Jeder Nerv sträubt sich dagegen.

Und als ob ihm das Kerlchen mit einem Male zu schwer werde, wendet er um, den alten mutlosen Ausdruck im Gesicht, und trägt es zurück. Merkwürdig, wie matt er sich fühlt und wie ihm das Blut pocht in den Schläfen!

„Du mußt ein wenig gehen, Liebling,“ sagt er und bückt sich, um das Kind auf die Erde zu setzen, und dabei fühlt er einen stechenden Schmerz im Kopfe. Langsam nähert er sich der Stelle, wo er vorhin den Kleinen in Empfang genommen hat; er späht hinüber, aber die alte Kinderfrau und ihre zierliche Equipage ist nicht mehr zu sehen. Er muß den Weg um den ganzen Park und den Gemüsegarten machen, damit er das Kind wieder abliefern kann. Seufzend geht er weiter, der Kopf schmerzt ihm geradezu unerträglich. Er nimmt es, wie ungeduldig, wieder auf den Arm und fühlt auch gleich wieder den sonderbar forschenden Blick des Kleinen, den erstaunten, nachdenklichen Blick, wie ihn nur dreijährige Augen haben können.

„Lieber, lieber Papa,“ sagt der kleine Bursche zärtlich, legt das Köpfchen auf seine Schulter und schließt die Augen. Als Anton ein paar Minuten später den Hof betritt, kommt ihm die Altwitzer Equipage leer entgegen.

„Wer ist gekommen?“ fragt er den Diener.

„Die Frau Gräfin und die gnädige Frau,“ antwortet dieser, den Hut über den Scheitel haltend.

Anton wundert sich – wer mag die „gnädige Frau“ sein? Vermutlich ein Besuch, den die Gräfin den alten Schwestern vorstellen will. Auch die passendste Zeit dazu! Na, es ist ja nun doch so allmählich schon ins Publikum gedrungen, wie es um ihn steht. – – Gottlob, daß er daheim ist, er hat nicht geglaubt, daß solch Kind so schwer sei, und die Legende des heiligen Christophorus fällt ihm ein, der das Jesuskindlein durch ein Wildwasser trug und fast erlegen wäre unter seiner Last, denn er trug das ganze ungeheure Leid der Welt.

Im Flur stehen die beiden Küchenmägde und der Kutscher, die eifrig halblaut sprechen; sie fahren nach allen Seiten auseinander, als sie ihn erblicken; er achtet kaum darauf.

„Tragen Sie Lothar nach oben,“ befiehlt er der Köchin, „und bringen Sie mir ein Glas frisches Wasser in mein Zimmer, Friedrich!“ Er liegt dann im Sessel und hält sich das Tuch vor die schmerzende Stirn, als der Kutscher, der die Stelle des Dieners jetzt vertritt, zurückkehrt mit dem Begehrten.

„Verzeihen Sie, Herr Mohrmann. Herr Mohrmann wissen wahrscheinlich noch nicht – die gnädige Frau ist vorhin angekommen.“

Anton erhebt sich halb, alles Blut ist ihm zum Herzen geströmt, er sieht jetzt leichenblaß aus.

„Meine Frau?“ fragt er.

„Jawohl! Die Frau Gräfin v. Altwitz sind mitgekommen.“

„Es ist gut,“ murmelt Anton. Der Kutscher geht, nachdem er noch bemerkt hat, die gnädige Frau sei bei den Fräulein Tanten oben.

In Antons Zimmer sind die Läden geschlossen der grellen Märzsonne wegen. Er sitzt mit zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen da. Was soll das? Was will sie? Er kann sie nicht sehen, es überläuft ihn kalt wie im Fieber. Er steht endlich auf und greift nach dem Hute; nur fort aus dem Hause, den nächsten Stunden entfliehen! Es dünkt ihm unmöglich, sein Wort zu halten, das ihr, falls sie zurückkehrt, das Recht gewährt, in seinem Hause zu leben. „Gut, mag sie bleiben, aber dann gehe ich – auf das Vorwerk oder irgendwo hin – nur nicht lügen und Komödie spielen einen Tag wie alle Tage!“

Die Klinke, nach der er die Hand schon ausgestreckt hat, bewegt sich, die Thür öffnet sich langsam und über die Schwelle kommt die liebenswürdige Gräfin Altwitz. Sie ist noch im Reisemantel und das einfache englische Kapothütchen sitzt ein klein wenig schief auf dem weißen schlichten Scheitel; das feine alte Gesicht ist ängstlich bewegt.

„Mein lieber Herr Mohrmann,“ sagt sie und streckt ihm beide Hände entgegen, die er an seine Lippen zieht, indem sie seine Hände noch immer hält mit festem Druck, „Sie wissen, wen ich mitgebracht habe?“

„Meine Frau,“ erwidert er und sieht an ihr vorüber.

„Eine andere Edith,“ fährt sie fort, und als er eine Bewegung macht, ihr seine Hände zu entziehen, „eine andere, lieber Mohrmann, eine recht kanke, schwerkranke Edith, die ich im Hospitale zu Genua fand und unter unsäglichen Mühen hierher transportierte.“

„Frau Gräfin!“

Sie läßt seine Hände los und wischt sich eine Thräne ab, die ihr langsam auf der Wange herabgerollt ist. „Erlauben Sie, Herr Mohrmann, daß ich mich setze,“ bittet sie, „den alten Füßen wird das Stehen schwer, und bitte, setzen auch Sie sich, ich möchte in aller Kürze doch noch sagen, wie ich sie fand. Altwitz und ich kamen von Sicilien zurück, ich war meines Bronchialkatarrhs wegen in Catania gewesen,“ beginnt sie, sich in den Lehnstuhl setzend. „In Genua bereitete mein Mann mir die Ueberraschung, einen ganz sonderbaren Zustand zu bekommen, eine plötzliche Herzgeschichte, die ihn wie leblos umsinken ließ und mir einen furchtbaren Schrecken einjagte, wie Sie denken können. Ich klingele natürlich Sturm, rufe nach Hilfe, nach einem Doktor, und da wird mir gesagt, daß gerade ein berühmter Arzt von dem Ospedale di Pammatone hier sei, um eine schwer erkrankte deutsche Dame, die übrigens schon seit Wochen hier liege, in das Krankenhaus überführen zu helfen. Natürlich wurde er – wir wohnten auf dem nämlichen Korridor – herübergerufen. Er leistete Altwitz, der sich auch bald völlig erholte, die nötige kleine Hilfe, schob den Anfall auf die große Hitze und den Chianti und empfahl Ruhe und Diät, versprach auch, andern Tages wiederzukommen.

Er kam dann auch, und da dieser vielleicht an sich unbedeutende Anfall meinen Mann sehr beunruhigte, kam der Arzt noch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0350.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2020)