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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Antons Erben.
Roman von W. Heimburg.
(12. Fortsetzung.)


Christel ist bei Heines gerade zur rechten Zeit eingetroffen. Nicht die Kinder, die kleine Frau Heine selbst ist erkrankt und er geradezu in Verzweiflung.

Man hat, so gut es geht, in der engen Wohnung ein Absperrungssystem eingerichtet und ein blutjunges Mädchen, die Tochter des Portiers, gebeten, vorläufig auf die drei Kleinen, die in einer nach dem Hofe gelegenen Stube untergebracht sind, zu achten. Sie hilft im Theater bei Ballett- und Volksscenen, eine ihrer Glanzrollen ist z. B. die Braut in der „Puppenfee“, und scheint der ihr ungewohnten Aufgabe nicht gewachsen. Der Junge schreit gottserbärmlich nach Tante Heine, die kleinen Schwestern zur Gesellschaft mit, und das bleichsüchtige sommersprossige Mädchen ist nahe daran, zu verzweifeln. Ein paar Klapse auf Lothars zornig geballte Hände machen die Situation nicht besser. Das Hausmädchen fährt wie eine Tolle ins Zimmer.

„Lassen Sie doch die Kinder nicht so brüllen, die Frau kann’s vor Kopfweh nicht aushalten!“

„Ich auch nicht!“ antwortet das verdrießliche Geschöpf, „warten Sie die Schreihälser selber! Ich gehe!“

„Na, dann laufen Sie! ’s is kein Schade!“ schreit das Dienstmädchen, das Frau Heine von Wartau gefolgt ist. „Wenn ich nur um Gottes willen wüßte, wo ich in der fremden Stadt hier eine Menschenseele finden könnte, die da hilft!“ jammert es dann. Es hat ganz den Kopf verloren. „Lotharchen, bis doch stille! Ich kauf’ dir auch ein Pferdchen – ja, bist stille?“

Und nun läuft sie wieder in die Krankenstube der Frau. „Nee, so’ne Last, so’ne Last!“ murmelt sie.

Heine ist derweilen in die Apotheke gegangen. Als er zurückkommt, trägt eben ein Arbeiter einen Kindersarg ins Haus. Er weiß, droben im vierten Stock ist das dreijährige Mädchen gestorben. Auf einmal hört er hinter sich einen Laut, einen unterdrückten Schreckensruf, und als er sich umsieht, steht da eine große Frau am Fuße der Treppe und blickt mit starrem Auge dem Manne nach, der eben um eine Biegung der Stiege verschwindet.

„Mein Gott!“ Mit zwei Sprüngen ist Heine wieder unten.

„Frau Mohrmann! Nein, zu uns trägt er’s nicht, unsere sind – noch sind sie gesund, Frau Christel! Aber – meine Frau, die ist krank! Ach, Frau Mohrmann – na, gehen Sie vorauf; gelt, ich weiß, warum sie kommen?“

„Die Kinder! Wenn Sie sie mir anvertrauen wollen?“

„Gottlob!“ antwortet er.

Kaum dreiviertel Stunden später rollt die Droschke mit Christel und den drei Kindern zur Bahn. Sie hat keinerlei Hilfe, das Mädchen ist bei der kranken Frau Heine nicht zu entbehren. Sie nimmt zwei Dienstmänner, die die Zwillinge tragen, faßt Lothar an der Hand und drängt sich durch das Menschengewühl in ein Coupé dritter Klasse. Hier giebt’s mitleidige Seelen, alle helfen Christel. Die kleinen Mädchen, so gleich groß und sich so ähnlich in ihren grauen Mäntelchen und Kapotten, erregen allgemeine Bewunderung. Während der Fahrt steht der Junge am Fenster und sieht aufmerksam in die vorüberfliegende Gegend; das eine der kleinen Fräulein schläft auf dem Sitz in Decken gebettet, das gutherzige Frauen bereiten halfen, das andere in Christels Armen. Sie wagt kaum, sich zu rühren, um das Kind nicht zu stören, ihr ist so wehmütig glücklich zu Mute.

Sie hat mit Heine ausgemacht, daß Mohrmann nichts wissen darf, er würde sich nur ängstigen über die Folgen der Gefahr, in der die Kinder geschwebt haben, und es ist überhaupt besser. „Nicht wahr, Sie versprechen mir’s, Heine? Es bleibt immer unter uns?“ hat sie gebeten. „Ja, ja, Frau Mohrmann, ich verstehe schon, warum.“

Christel weiß nun auch, wo Anton weilt. Mit einem Berliner Kaufmann, einem Güterspekulanten, ist er in der Provinz Posen, um dort die Administration eines Gutes zu übernehmen, das der reiche Mann erstanden hat und auf dem er allein nicht fertig wird. Eine verantwortliche Stellung, die wenig einbringt, in der es täglich viel Aerger giebt, aber doch Thätigkeit, Arbeit – um zu vergessen.

Christel seufzt. Sie kann sich den frischen, stolzen Menschen schwer vorstellen unter der Oberhoheit eines solchen Herrn, ihn, der die Güterspekulanten so gehaßt hat, der so frei zu handeln gewohnt ist. Ihre Augen irren von der Kleinen im Schoße zu der Schlummernden neben sich, von dort zu dem Jungen.

„Sind wir bald da?“ fragt er.

„Bald. Aber einmal müssen wir noch in eine andere Bahn steigen.“

„Ich möchte aber nicht mehr Eisenbahn.“

„Ja, ja. Wenn wir angekommen sind, dann steigen wir aus und setzen uns in einen Wagen mit zwei schönen braunen Pferden davor.“

Die Kinderaugen leuchten. „Ist mein Papa da?“ fragt er.

„Nein, Lothar.“

„Onkel Heine hat’s aber doch gesagt?“ Die Miene des Kindes verzieht sich zum Weinen.

„Vielleicht kommt er bald, mein Junge; wir wollen ihn darum bitten, aber du mußt artig sein und darfst nicht weinen. Sieh mal, nun pfeift’s und wir setzen uns in eine Eisenbahn, die klingelt, wenn sie fährt.“

Auch hier wieder geschäftige hilfreiche Hände; Christel ist so gar nicht gewöhnt, mit Kindern umzugehen, aber sie kommt doch glücklich ins Coupé. Ein Frauencoupé erlangt sie freilich nicht in der Eile, es sitzt ein Mann darin, Schwager Wendlandt. Er scheint ein bißchen verlegen, als er die Frau mit der Kinderlast sieht, Louischen hat ihm die halbe Nacht von der Verrücktheit Christels vorgepredigt, aber er hilft ihr bereitwillig, und Christel dankt mit so herzlichen Worten, daß er seufzt, wie er an seine fehlgeschlagene Werbung denkt.

Wie sie so lieb ist mit den Kindern, wie ihre Augen leuchten! Daß Schwestern so verschieden sein können!

„Lassen Sie nur, Schwägerin,“ wehrt er, als Christel Lothar auffordert, von den Knieen des Mannes zu gehen, „der Junge wird mir nicht zu schwer.“ Und dann zieht er eine Tüte Bonbons aus der Tasche, die er für seine Kinder eingekauft drunten im Flecken, wo er geschäftlich zu thun hatte, und hält sie dem kleinen Wicht hin: „Iß, mein Junge!“

Aber der schüttelt den Kopf. „Ich esse keine Bonbons, die sind zu süß, Papa mag auch keine,“ antwortet er verächtlich.

Christel lächelt unmerklich. Das Aeußere hat das schöne Kerlchen von seiner Mutter, aber Antons Sinnesart ist’s über und über. Und der einfache Mann, der ihn auf den Knieen hält, lächelt auch. „Bleib’ nur so bei,“ sagt er leise und streichelt die seidigen braunen Härchen, die unter dem etwas verbrauchten Matrosenmützchen hervorsehen, „wirst’s nötig haben.“ – Er hilft Christel dann noch in ihren Wagen nach der Ankunft auf der Station, und als sie wohlverpackt darinnen sitzt, reicht er ihr treuherzig die Hand.

„Adieu, Schwägerin, und lassen Sie’s mich nicht entgelten, was Louise redet – sie meint’s wohl nicht so böse.“

„Nein, Schwager, sie meint’s sicherlich nicht böse, und wie Sie denken, das weiß ich ja,“ erwidert Christel und drückt ihm besonders herzlich die breite Rechte. Dann besteigt auch er sein Gefährt und Christel fährt ihre kleinen Gäste heim in den Rödershof.

Als Frau Wendlandt durch ihr Stubenmädchen hört, daß die „Rödershofsche“ mit drei Kindern heute mittag heimgekommen sei, ruft sie ihrem Manne zu, der eben aus der Thüre gehen will: „Na, nun füttert sie Antons Erben!“ Sie lacht dabei, daß ihr die Thränen in den Augen stehen, und der älteste sechsjährige Stiefsohn erhält einen Klaps, weil er mitgelacht hat.

„Komm’, mein Fritzchen,“ sagt Wendlandt und nimmt das weinende Kind mit sich.




Das ist eine Lust in der Kinderstube des Rödershofes! Das alte Haus hat schier ein vergnügtes Aussehen gewonnen, seitdem hinter den Scheiben droben die Kindergesichter sich zeigen und die kleinen Nasen an dem Glase sich breit drücken. Die Mägde und Knechte gucken mit Lachen hinauf und Christel steht hinter den Kindern und läßt sie hinuntergrüßen und nicken; für sie ist’s ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0399.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2019)