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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

noch am Boden bei den Schwesterchen sitzend, den Brief liest. Heine teilt ihr mit, daß er eine Stellung gefunden habe, daß er unverzüglich nach Ostpreußen abreise, wohin ihm seine Frau sobald als möglich nachfolgen soll. Unter diesen Umständen bitte er herzlich, die Kinder einstweilen noch behalten zu wollen, bis er dort eingerichtet sei und mit Herrn Mohrmann gesprochen habe, den er aufsuchen werde.

In diesem Augenblick glaubt Christel an alles Gute in dieser Welt, in diesem Augenblick ist sie fähig, jede böse Auslegung ihrer Handlungsweise zu tragen, an Mohrmann zu schreiben: Lasse mir die Kinder, ich will sie erziehen! Wenn du mich auch nie geliebt hast, so wirst du doch in unserer Ehe die Ueberzeugung gewonnen haben, daß du dann die Kinder dem Schutze einer pflichttreuen Persönlichkeit anvertraust. Ich will keinen Dank, ich verlange nicht, daß du mich auch sehen sollst, wenn du das Bedürfnis fühlst, deine Kinder zu besuchen. Du hast mich einst so arm gemacht, mache mich wieder reich, indem du mich zu ihrer Hüterin wählst.

Dann schreckt sie zusammen. Was wird er sagen, wenn Heine ihm erzählt, bei wem seine Kinder sind? Und wieder wird sie still unter den anstürmenden Zweifeln, dem Bangen, das ihre Seele erfüllt. Wie, wenn Heine schreibt: Herrn Mohrmann ist die Sache sehr fatal, er wünscht seine Kinder jetzt selbst zu haben, oder dergleichen?

Sie denkt nach; vor ihrer Seele entsteht das Bild des Mannes, mit dem sie jahrelang gelebt in treuer Gemeinschaft. Sie kennt ihn so genau, er war nicht kleinlich, nie; nein, das wird er nicht sagen, aber er wird sich vielleicht schämen, von ihr, der Verstoßenen, Wohlthaten zu empfangen. Ja, das wird’s sein, das!

Wenn sie ihm doch zeigen könnte, wie es in ihrem Herzen aussieht, das nie einen Groll, das nichts weiter als den Schmerz um seinen Verlust, als das Verlangen, ihn glücklich zu sehen, gekannt hat. Ihren gekränkten Stolz, wie bald hat sie den überwunden gehabt, und die Sehnsucht, ihm zu beweisen, daß sie ihm verzieh, ist heute noch ungestillt.


Scorodowo heißt das Gut, wo Anton eine Stelle angenommen hat. Ein einstöckiges, recht vernachlässigtes Wohnhaus, ebenso vernachlässigte Stallungen und Scheuern; ein Hof, auf dem man im Morast fast versinkt; ein Haufen verdrossener Leute, schlecht gepflegte Pferde, jämmerliche Kühe; an Inventar wertloses veraltetes Gerümpel – da steht er mitten inne und soll den Phönix aus der Asche neu erstehen lassen. Sein Prinzipal erwartet das von ihm, aber – es darf nichts kosten. Es soll ein Schaugericht werden, dieses Scorodowo, denn er will es baldmöglichst weiter verkaufen.

Anton hat das Nötigste, was durchaus geschehen muß, zusammengestellt, hat einen Kostenanschlag hinzugefügt und vor mehreren Tagen nach Berlin geschickt. Vorhin ist die Antwort gekommen: alles viel zu hoch gegriffen! Wozu die halbverrotteten Gebäude so gut wie neu bauen? Frische Tünche ist die Hauptsache! Die Löcher auf dem Hofe zuwerfen, andere alte Ziegel statt der zerbrochenen, schadhaften auf die Dächer, das genügt! Wenn man von Grund aus bessern wolle, sei nichts zu verdienen, das wisse der geehrte Herr Inspektor wohl aus eigener Erfahrung.

Anton sitzt in der ebenerdigen Stube des Herrenhauses, in welcher das ehemalige Parkett große Löcher zeigt und die Tapeten vor Feuchtigkeit locker geworden sind; prächtige Tapeten einst, aber verschmutzt wie alles hier. Die defekten Dielen hatte der polnische Besitzer einfach mit echten Smyrnateppichen zudecken lassen und auf den Tapeten hingen die großen Bilder seiner Ahnen; es sah äußerlich immerhin sehr stattlich aus – was darunter war, kümmerte ihn nicht, und seine Gäste erst recht nicht.

Anton friert in dem großen Raum, dessen Kamin kaum noch gebrauchsfähig ist. Ein paar dürftige Möbel stehen umher, die bei dem Juden im nächsten Orte gekauft sind. Auf dem wackligen Tisch vor dem Sofa, einem sogenannten Rückenbrecher, ist das Vesperbrot serviert. Das Birkenfournier dieses ungedeckten Tisches hat Brandstellen und Blasen von der langjährigen schlechten Behandlung, das Geschirr ist ganz defekt. Er war vom Felde gekommen vor einem Weilchen und hat den Brief des Besitzers vorgefunden mit der Ablehnung seiner Vorschläge. Anton hat den besten Willen gehabt, die Karre, die Scorodowo heißt, aus dem Schmutz zu ziehen; jetzt ist er entmutigt, gänzlich entmutigt. Was soll er hier? Um etwaigen Käufern die wertlose Klitsche aufzuschwatzen, nachdem sie frisch getüncht und mit Mühe und Not oberflächlich in stand gesetzt wurde?

Er würde jedem einzelnen sagen: „Geben Sie den Gedanken auf, wenn ich raten soll, dafern Sie nicht sehr viel überflüssiges Geld haben. Es ist alles faul hier, jämmerlich faul!“ Und er hätte doch froh sein müssen, diesen Platz so rasch gefunden zu haben, durch seinen Nachfolger auf Wartau, der ihm, gönnerhaft tröstend, seine Unterstützung verhieß, falls er eine Stelle suche, und der auch hielt, was er versprach, der Herr von Salamonsky. Der Unterschlupf fand sich – Scorodowo heißt er.

Anton Mohrmann sieht sich kaum noch ähnlich, Schlag auf Schlag hat’s ihn getroffen in den letzten Jahren; bis genau acht Wochen nach Ediths Tode das Ende kam. Wie er die Zeit nur überstanden hat, das Jammern der alten Damen, als die Siegel vor die Schränke und Zimmer gelegt wurden, den Tag, an dem die Kommission da war und die Käufer auf den Hof fuhren! Er stand bei Heine am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt, und sah mit an, wie die Herren aus dem Schloß kamen, um die Ställe zu besichtigen und die Scheuern, allen voran der korpulente Baron mit der Adlernase und der schweren goldnen Uhrkette auf dem Magen. Die kleine Frau Heine war mit verweinten Augen um ihn herum geschlichen, immer vergebens ihm ein Glas Rotwein präsentierend, er hatte alles abgelehnt.

Die Kinder spielten nebenan in der Wohnstube, in welcher er so arbeitsreiche, gesegnete Jahre mit Christel durchlebt hatte; die alte Clauß ist zum letztenmal bei ihnen. Sie muß gehen, obgleich sie sich erboten hat, für den halben Lohn zu bleiben. Anton weiß, die Frau hat Kinder und Enkel, und was im ersten überschäumenden Mitleid geboten wird, soll man nicht annehmen, man soll den Leuten Zeit lassen, daß sie sich darauf besinnen, wieviel sie thun wollen und können für uns, ohne daß es ihnen eine Last wird, daß die Reue folgt. Gewöhnlich ist es dann wenig, was bleibt, mitunter auch gar nichts; aber besser, als voreilig Gebotenes, mit Seufzen Vollbrachtes annehmen.

Am liebsten wäre er mit den Kindern hinausgezogen in das Leben, das Armut und Arbeit für ihn bedeutet, aber sie sind noch gar so klein, sind noch so der Pflege bedürftig, die Würmer, sie können weibliche Hilfe noch nicht entbehren. Fräulein Josepha hat im Dorfe eine Stube mieten wollen für sich und die Kleinen, aber sie ist doch zu alt und zu kränklich, ihr guter Wille würde größer sein als die physische Kraft. Es bleibt nichts weiter, als Heines Anerbieten dankbar, wenn auch bedrückt, zu erfassen, die letzten Hundertmarkscheine ihm zu übergeben als Pension, obgleich die gutherzigen Leute sich sträuben, es anzunehmen, und vom Himmel zur Erde bitten: wenn Herr Mohrmann wieder in einer besseren Lage sei, würden sie sich’s einfordern. Aber davon hat er nichts wissen wollen, er muß ja eine Existenz finden, die ihm bald Brot verschafft, er muß – –

Es ist sehr schwer, er hat sich’s so nicht vorgestellt. Die Leute sind unzuverlässig: eine deutsche Wirtschafterin, die er auf eine Zeitungsannonce hin engagiert hatte, um doch eine verständige Person bei der Milchwirtschaft und der Geflügelzucht zu haben, ist auf dem Fleck umgekehrt, als sie das verlotterte Anwesen sah, und die schlampige polnische Person, die er als Ersatz bekam, läßt’s drüber und drunter gehen, fährt abends zu Tanz in den nächsten Ort und ist in der Woche regelmäßig ein paarmal betrunken. Die Mägde sind frech, faul und verstehen angeblich kaum ein deutsches Wort, und mit den Knechten ist’s erst recht keine Freude. Den deutschen Hofmeier, der auch neu ist, haben sie am letzten Sonnabend halbtot geschlagen, als er versuchte, ihnen Beine zu machen bei der Arbeit. Betrunken wie die Stiere lauerten sie ihm auf, als er vom Dorfe zurückkam; wäre Anton nicht dazwischen getreten, sie hätten ihn thatsächlich umgebracht.

Wie soll er fertig werden, wenn ihm die Mittel verweigert werden, durchgreifende Neuerungen zu schaffen? Wenn ihm keine tüchtigen Kräfte zur Seite stehen? Er hört eben wieder die gellende Stimme der polnischen Wirtschafterin, ein wahrer Höllenlärm dringt herein, Schimpfen, Gekreisch, dumpfes Gepolter. Er rührt sich nicht, es ist alle Tage so; ihm sind die Mägdeangelegenheiten des Haushalts stets widerwärtig gewesen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0402.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2021)