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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

er hat sich nie darum gekümmert. Und plötzlich erinnert er sich, daß er damals, als er Wartau pachtete, an seinen Freund Karl in Dresden schrieb: „Eine Frau gehört in solche Wirtschaft; ich will heiraten, alter Freund, eine brave arbeitsame Frau will ich nehmen – ich glaube, ich weiß eine.“

Ja, Christel, wenn du hier wärst! Eine Freude, neben dir zu schaffen, eine wahre Gottesfreude! Hab’s dir schlecht gelohnt und bin hart dafür gestraft worden, härter als du! Seine Gedanken kommen nicht fort von Christel, sie bleiben hängen, als hätten sie Häkchen. – Er sieht sie hier im Hause Ordnung schaffen, er sieht sie über seine drei mutterlosen Kinder gebeugt, er hört ihre Stimme: „Nur Mut, Anto, es wird alles gehen!“ Auf den Knieen würde er hinrutschen nach dem fernen Sachsen, nach dem Orte, wo sie lebt, um sie wiederzuholen – wenn er dürfte. Dann lacht er auf. Sie würde sich schön bedanken, und sie hätte recht!

Eine der polnischen Mägde meldet jetzt: „Da is sich fremder Mann draußen, will sich sprechen Pan Mohrmann.“

Anton erhebt sich. „Lassen Sie den Herrn eintreten.“ Im nächsten Augenblick steht Heine im Zimmer, ganz rot vor Freude.

„Ja, nun sagen Sie mal, Herr Mohrmann, wie geht es Ihnen denn? – Wie ich daher komme? Auf der Fahrt in meine neue Heimat natürlich! Ja, wie sonst wohl?“

Anton schüttelt ihm noch immer die Rechte. „Willkommen, Heine, lieber Heine! Wissen Sie, im ersten Augenblick, und wenn man so gar keine Ahnung hat – ich dachte, es wäre was mit den Kindern –“

„I bewahre, Herr Mohrmann, putzmunter, kreuzfidel, gar nicht besser zu wünschen! Aber wie geht’s Ihnen denn? Ich konnt’ schon nicht anders, hab’ den Umweg gemacht, bin in Kreuz ausgestiegen und herspaziert.“

„Wie es mir geht? Ach Gott, Heine – na – ich will lieber nicht davon anfangen –. Lange werd’ ich’s wohl nicht hier machen: wenn Sie mal etwas hören – –. Gottlob, mein Kontrakt läuft nur auf ein Jahr, im Juli ist’s überstanden; wenn die Klitsche früher verkauft wird, wär’s mir noch lieber. Aber vor allem setzen Sie sich, machen Sie sich’s bequem, lieber Heine; ein Bett bringe ich zur Not auch noch zusammen, und der polnische Satan wohl auch ein Abendessen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich will nur draußen bestellen –“

Als er wiederkommt, hat er eine Flasche Ungarwein in der Hand und zwei Gläser; ihm auf dem Fuße folgt eine der Mägde mit Holz, das bald mit heller Flamme im Kamin prasselt, der unwirtlichen Stube einen Schimmer von Gemütlichkeit gebend. Heine sitzt schon in der Sofaecke, er sieht seinem ehemaligen Herrn mit bekümmertem Gesicht entgegen.

„Ihr Wohl, Herr Mohrmann,“ sagt er nun, mit ihm anstoßend. Es würgt ihm etwas in der Kehle, als er den Mann so gedrückt und resigniert wiederfindet, so geradezu müde. Sie sitzen sich dann stumm gegenüber. Heine überlegt, wie er das, was er sagen muß, am besten einkleidet; Mohrmann brütet still vor sich hin, er hat sich das Sprechen beinahe abgewöhnt.

„Gehört der Wald, in dem Holz geschlagen wird, zu Scorodowo?“

„Ja,“ erwidert Anton, „Holzschlagen ist hier so ziemlich die Hauptarbeit; der Besitzer zieht heraus, was herauszuziehen ist, aber hineingesteckt wird nichts – es ist zum Gotterbarmen! Pflügen Sie mal mit den vorsündflutlichen Dingern! Alle Augenblicke hält die Karre still und es muß daran gehämmert werden und geflickt, neue Pflüge giebt’s nicht. Säen in den ausgemergelten Boden? Das Stroh wird eine Spanne lang und die Halme stehen dünn wie die Haare auf einem angehenden Kahlkopf. Ich habe im Herbst, als ich herkam, händeringend gebeten, künstlichen Dünger anwenden zu dürfen – ja, prosit Mahlzeit! Sie hätten nur die vorjährige Ernte sehen sollen, Heine, jammervoll, wahrhaftig!“

„I, Gott bewahre!“ sagt Heine, dann schweigt er wieder.

Wenn er nur wüßte, wie er’s anfangen soll, von den Kindern zu reden, die bei Christel sind; er hat ordentlich ein bißchen Herzklopfen, der Mann kommt sich vor, als hätte er ein Verbrechen zu beichten.

„Das thut mir ja sehr leid, Herr Mohrmann,“ beginnt er endlich, sein geleertes Glas hinstellend, „wenn ich was höre da droben herum, wohin ich nun gehe – das ist drei Stunden von Königsberg, Adlig-Bergen heißt’s – als Inspektor mit einem ganz netten Gehalt, dann schreibe ich, ja – und nun, warum ich eigentlich gekommen bin, Herr Mohrmann – meine Frau, die muß natürlich bald nachfolgen und – da wollt’ ich sprechen wegen der Kinder –. Sie sind uns nicht etwa eine Last, Gott bewahre, im Gegenteil, aber – sehen Sie, wie das so ist, ob sich Lieschen so recht wird um sie kümmern können, und –“

„Erbarmen Sie sich,“ fällt Mohrmann aufspringend ein, „wo sollen sie denn bleiben? Hier ist’s unmöglich, ganz und gar. Was soll denn aus ihnen werden? Haben Sie die Schlampe gesehen? Und keine Frau im Haus, Heine!“

Er geht ein paarmal heftig im Zimmer auf und ab. Die Sorge, die im Drange der Arbeit, im Kampf mit den niedrigen Verhältnissen momentan zurückgetreten war, hockt sich ihm aufs neue wie ein Ungetüm auf die Schultern; bisher konnte er doch wenigstens einigermaßen ruhig an die Würmer denken.

„Ich nehme Ihnen das nicht übel, Heine,“ sagt er dann, „ganz gewiß nicht! Jeder ist sich selbst der Nächste, und was für die eigenen Kinder selbstverständlich sein würde, das geht nicht auch für fremde. Verzeihen Sie, es klingt vielleicht bitter, soll’s aber nicht sein, gewiß nicht! Ich verstehe ganz gut, – in solch’ neuen Verhältnissen, wo zurecht zu finden Ihre Frau selber Mühe haben wird, da ist’s ja unmöglich, ganz unmöglich, ich sehe es ein, mein Gott, ich sehe es ein, wenn ich nur – –“

„Aber, Herr Mohrmann, beruhigen Sie sich doch!“ Heine ist ganz erschüttert von der Verzweiflung des Mannes.

„Ja, ja, ich bin ruhig, ganz ruhig. Dann bringen Sie sie nur, oder soll ich sie holen? Und wenn sie verkommen, so verkommen sie eben! Ich habe ja übrigens fast nichts zu thun, kann ja Kindermädchen spielen – –. Lieber, bester Heine,“ wehrt er ab, „ich bitte Sie, ich hab’s wirklich nicht übelgenommen – setzen Sie sich doch, trinken Sie doch –“

Er gießt mit vor Aufregung zitternden Händen ein zweites Glas Wein ein. Heine steht da mit seiner guten Botschaft, mit der Kunde von dem Geborgensein der Kinder und kann vor Mitleid mit dem trostlosen unglücklichen Mann und vor Angst, wie er die Nachricht aufnehmen wird, nicht reden. Wenn ihm um Gottes willen nur das Richtige einfiele. Er beginnt zu stottern, sich zu verheddern und endlich platzt er heraus: „Ja, wenn Sie die Kinder nur lassen wollten, wo sie nun schon sind, Herr Mohrmann, dann –“

Anton, der wieder im Zimmer umherläuft, bleibt stehen, er ist so erregt, daß das, was er da hört, ihm einen Blutstrom ins’ Gehirn treibt. „Sie haben die Kinder nicht mehr?“ keucht er, vor den Erschrockenen tretend. Das abgemagerte Gesicht ist grünlich bleich, die Augen funkeln und wie eine Schlange ringelt sich die Ader auf seiner Stirn.

„Aber Mohrmann!“ ruft Heine zurückweichend, „so hören Sie doch erst!“

„Ohne mein Wissen? Ohne mich zu fragen?“ schreit Anton, „das ist – –“ Er kennt sich nicht mehr und tritt wieder einen Schritt näher zu Heine.

Der bleibt jetzt stehen und sieht ihm ruhig ins Auge. „Nein,“ sagt er laut, „wir haben sie nicht mehr. In dem Hause, wo ich wohnte, brach Diphtheritis aus und meine Frau bekam sie zuerst, und gründlich. Und da – sehen Sie, Herr Mohrmann, da kam Frau Christel und holte die Würmer, und pflegt sie, als wären sie ihre eigenen. – So, nun ist’s heraus!“

Auf den rasenden Mann haben die Worte gewirkt wie ein elektrischer Schlag. Er steht bewegungslos ein paar Augenblicke, dann wendet er sich stumm, setzt sich in die Sofaecke, zieht sein Taschentuch hervor und birgt das Gesicht darin. Eine Totenstille herrscht im Zimmer.

Heine schleicht hinüber zu dem Fenster und starrt hinaus, als sei der verkommene Hof das Interessanteste, das es für ihn auf der Welt nur geben kann. Er will die Thränen da hinten nicht sehen, die Thränen, die ein jahrelanges Leid hinwegwaschen, die einer verbitterten, verzweifelten Seele den Glauben an die Menschheit wiedergeben.

Und in dieser Seele klingt’s wie mit Engelsstimmen, das einfache schlichte Wort: „Und pflegt sie wie ihre eigenen – Christel hat sie sich geholt!“



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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0403.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2021)