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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Christel trägt das weinende Kind im Zimmer umher. „Tate hier bleiben, hier bleiben!“ jammert es und kann noch kaum sprechen. „Freilich, freilich!“ tröstet sie, „Tate bleibt bei euch, s’ist ja ganz egal, wie’s draußen geht, Tate bleibt bei euch!“

Lothar ist jetzt auch zu ihr gekommen. „Tante, schick’ die Frau fort,“ fordert er und die Kinderaugen sehen sie vorwurfsvoll an, „sie hat mich geschlagen.“

„Der Junge hat Ihnen nachgewollt,“ verteidigt sich die Alte, die Lothars Worte errät und sieht, wie er seine geschwollene Hand zeigt. „Wie ich die Thüre zugemacht habe, hat er mit den Fäusten dagegen gepoltert, und da hab’ ich ’n gehauen.“

„Du warst nicht artig, Lothar,“ tadelt Christel gepreßt.

„Die alte Frau hat immerzu geschlafen,“ erklärt er, „hat gar nicht gespielt mit uns, die alte Frau taugt nichts.“

„Lothar!“ ermahnt Christel und dankt Gott im stillen, daß die Alte schwerhörig ist.

„Du sollst bei uns bleiben, Tante,“ fordert er, „oder du sollst uns mitnehmen.“

„Ja, ich bleibe bei euch,“ wiederholt Christel und legt das noch immer leise schluchzende Kind auf sein Bettchen. Dann lohnt sie die Alte ab und sitzt nun da mit heißem Kopf und trüben wirren Gedanken. Wie soll sie es machen, um allem gerecht zu werden? Sie muß andere Arbeitskräfte gewinnen, einen zuverlässigen Inspektor etwa. Sie lacht leise auf – für das kleine Gut? Aber so geht’s doch nicht weiter, sie kann nicht überall dabei sein wie sonst, zumal im Herbst. In ihrem Kopfe schwirrt die Menge der nötigen Arbeiten wirr durcheinander, Rübenernte, Düngen, Pflügen, die Obstbäume, die ihrer Last entledigt sein wollen, Verwertung des Obstes, die Wintersaat, die Sicherung der Ställe vor Frost und Zug, bei allem ist sie sonst dabei gewesen oder hat gar selbst Hand angelegt – ach, und die Milchwirtschaft!

Der alte Hoch hat so unrecht nicht: die Butter war ein paarmal schlecht, der Händler hat sich auch beklagt. Marie ist manchmal flüchtig – nein, das zu behaupten wäre ungerecht; das fleißige Geschöpf hat eine wahre Ueberlast von Geschäften; sie sieht schon ganz jämmerlich aus und ist noch so jung, ist ja keine Wirtin, der die Erfahrung zur Seite steht, und macht sich manche unnütze Mühe. Auch hier möchte Hilfe am Platze sein.

Aber was thun Fremde dabei, die kosten nur Geld! Christel selbst muß schaffen, wenn ein Verdienst herauskommen soll. Dann also eine zuverlässige Frau für die Kinder?

Und da schüttelt’s plötzlich die Sinnende – wenn ihnen etwas passierte? Wenn ihr der leiseste Vorwurf gemacht werden könnte, diese Kinder nicht gut gewartet, nicht hingebend gepflegt zu haben? Gerade diese? – Nein, nein, mag’s drunter oder drüber gehen, wie es will, nur hier nichts versäumen!

Christel will sehen, daß sie eine Art von Inspektor bekommt; etwas Besseres als ein Meier, nicht völlig ein Herr, aber doch so, daß ihn die Leute anerkennen – ob es so etwas giebt? Und dann ein tüchtiges Hausmädchen zur Stütze für Marie. So viel sie selbst mit helfen kann, wird sie’s ja natürlich thun. Aber, wie das ins Geld laufen wird? Sie rechnet. Ihre roten Lippen, die noch so jung aussehen, bewegen sich leise, die blauen Augen sehen starr ins Weite dabei. Mit einem tiefen Seufzer steht sie auf. „Es geht nicht!“ spricht sie zu sich – „es geht nicht!“

Dann irrt ihr Auge zu dem schlummernden Kind mit der Kompresse auf der heißen geschwollenen Stirn. „Es muß aber doch sein,“ sagt sie jetzt laut und beugt sich zärtlich über die kleine Josepha, die das blonde Kraushaar ihres Vaters und seine bläulichgrauen klaren Augen hat. „So lange ich für euch sorgen darf, muß es sein – wer weiß, wie lange das noch dauert!“ Und ein zweiter Seufzer, noch tiefer als der erste, folgt.

Als jetzt Marie, müde und abgehetzt, eintritt mit einer Kanne Milch für die Kinder, legt Christel die Hand auf die Schulter des Mädchens und sagt freundlich: „So geht’s nicht weiter, Marie!“

„Ja, Frau, so geht’s nicht weiter, da haben Sie recht!“ antwortet diese mit zuckenden Lippen. „Wenn’s denn schon über die Kräfte von unsereinem geht, da mag’s noch sein, am letzten Ende hat der Mensch doch seinen Mund, um zu sagen: ‚So! Jetzt kann ich nicht mehr!‘ Aber wenn das Vieh auch darunter leiden muß, das nicht klagen kann, da wird’s zu toll.“

„Was ist denn geschehen?“ fragt Christel erschreckt.

„Der Wilhelm hat das Handpferd so geschlagen, daß der Meier es herführen mußte; es kam auf drei Beinen. Karl meint, das Tier sei hin.“

Christels Augen blicken finster an dem Mädchen vorüber. „Bleib’ bei den Kindern,“ befiehlt sie kurz und nimmt ihr Tuch.

„Frau,“ ruft Marie ihr ängstlich nach, „der Alte und der Wilhelm haben sich sehr erzürnt und der Wilhelm ist total betrunken!“ Aber Christel ist schon mit raschen Schritten die Treppe hinuntergestiegen. Es schlägt zwölf Uhr, als sie durch den Hausflur geht, über den Hof und nach dem Pferdestall, aus welchem Schelten und Geschrei ihr entgegendringen. Der Meier Hoch ist um das Pferd beschäftigt, als sie eintritt; er hat einen Eimer mit Wasser neben sich, darin ein Gewirr von Binden und Bandagen, und das rechte Hinterbein des Tieres blutet stark über der Fessel. Der betrunkene Knecht bemüht sich, das eben abgenommene Geschirr des Pferdes an die Haken zu hängen, hängt aber immer daneben, was zur Folge hat, das das Kummetzeug rasselnd zu Boden fällt. Als er Christel erblickt, lehnt er sich an die Wand, um sein Schwanken zu verbergen, und hält mit Fluchen inne; der Alte schimpft desto lauter.

„Ruhig!“ herrscht ihn Christel an. „Was ist’s mit dem Pferde? Wer von euch ist so roh gewesen?“

In nicht zu beschreibenden Ausdrücken fahren die beiden aufeinander los. Der Kleinknecht hat eine Kette in der Hand und macht Miene, auf den andern einzudringen. Christel versteht aus den häßlichen Reden nur so viel, daß jeder den andern beschuldigt. Der Alte droht dem „verlogenen tückischen Hund, der da säuft und das Vieh mißhandelt“, und der andere schreit, daß Saufen und Hauen noch kein Stehlen sei, und wenn so ein Beest widerhaarig wäre, da haue er zu mit dem, was er gerade in der Hand habe, und das sei in diesem Fall die Dunggabel gewesen.

Der Meier löst die Binden und fährt auf den Ankläger los bei dem Worte „Stehlen“; im nächsten Augenblick haben sich die Kerle am Kragen und der Alte, von den jungen, kräftigen Händen gepackt, kommt unter den Knecht zu liegen. Wie ein wildes Tier hockt der auf ihm und haut mit der Faust, wohin er trifft. Christel ruft dazwischen, aber die von blinder Wut gepackten Menschen hören nicht. Nun läuft sie zur Thür und schreit über den Hof: „Karl! Karl!“

Der große, stille Mensch, ein Riese mit melancholischen braunen Augen – er ist ehrlich und ordentlich – kommt aus der Scheuer von der Häckselmaschine angelaufen, reißt mit einem: „Du windschiefes Lotter, du!“ den Wilhelm zurück und gießt noch zum Ueberfluß den Stalleimer über den Trunkenen aus.

„Packen Sie Ihre Sachen,“ sagt Christel zu dem triefenden Menschen, „Sie sind entlassen.“

Das hätte er nicht nötig, ist die patzige Antwort, während er das Wasser abwischt.

„Das wird sich finden,“ antwortet Christel. „Karl, rufen Sie mal meinen Schwager; ich lasse ihn bitten, auf einen Augenblick –“

Der wäre sein Herr nicht, ruft Wilhelm frech dazwischen.

Christel zittert an allen Gliedern. „Ihr Herr bin ich,“ sagt sie, „und mein Schwager führt nur meine Befehle aus, wenn er Sie gewaltsam entfernt, falls Sie nicht sofort gehen.“

„Ja freilich, das Regieren verstehen die Weibsen noch nich g’nug,“ hohnlacht der Mensch, „wenn sie auch so thun; sie haben doch alleweile Angst vor unsereinem.“

Chnstel wendet sich ab, dem verletzten Pferde zu; ihre Zuversicht, ihr Selbstvertrauen ist schier gebrochen diesen Roheiten gegenüber. Der Oberknecht hat sich endlich auch aufgerappelt; zerzaust, halb erwürgt, mit verschwollenem Gesicht will er sich wieder an das Verbinden des Tieres machen.

„Lassen Sie das,“ befiehlt Christel barsch, „ich werde den Schmied rufen.“ – Der Schmied gilt auf dem Dorfe als Sachverständiger bei Krankheiten des Viehes.

„Na, wenn ich nicht mehr nötig hier bin, kann ich ja auch gleich gehen,“ höhnt der Alte, in der Meinung, er sei unentbehrlich, und wirft die Bandagen hin.

„Das können Sie,“ antwortet Christel.

Der Mann giebt dem ihm im Wege stehenden Eimer einen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0406.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)