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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wie die vollen Lippen sich zusammenpreßten. Unwillkürlich griff Maria nach ihres Mannes Hand und hielt sich daran fest.

Alix mußte die Depesche nochmals überlesen; es dauerte lange, ehe sie das Blatt ihrer älteren Freundin hinreichte. Sie sagte kein Wort dazu.

Das Ehepaar blickte gleichzeitig in das offene Blatt.

„Fräulein Alexandra von Hofmann.   Frankfurt am Main.

Ihr Herr Vater leider verunglückt. Schwere Kopfwunde. Zustand bedenklich. Beste Aerzte sofort aufgeboten. Alles Erforderliche veranlaßt. Pflege und Wartung vortrefflich. Patient ohne Besinnung. Aerzte vorläufig außerstande, endgültige Diagnose zu stellen. Jedenfalls bitte nicht eher abzureisen, als bis Brief eintrifft. Ueberweg.“ 

Keines von den dreien sprach zunächst. In der tiefen Stille, die im Zimmer herrschte, hörte man deutlich, wie draußen ein Windstoß eine ganze Ladung von Schneeflocken gegen die Fensterscheiben warf.

Der Professor brach endlich das Schweigen.

„Fassen Sie Mut, Alix!“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es ist vielleicht nicht so schlimm. Nähere Angaben fehlen – die wird der Brief enthalten. Auf jeden Fall müssen Sie bleiben, bis der Brief eingetroffen ist – er muß alles entscheiden!“

Halb mechanisch nickte das junge Mädchen. „Ja – – den werd’ ich abwarten müssen.“ Nach einer Pause fügte sie mit etwas belebterer Stimme hinzu: „Wann kann er hier sein?“

„Lassen Sie mich sehen, wann die Depesche aufgegeben ist. Halb sechs Uhr nachmittags; jetzt haben wir gleich Sieben. Das – das – Unglück kann vielleicht um zwei Uhr geschehen sein. Wie gut, daß der alte Rechtsbeistand Ihres Vaters aus Greifswald zufällig gerade in Josephsthal war! Der Justizrat hat erst depeschiert, als alle Maßregeln getroffen, Aerzte zur Stelle waren, das nimmt schon Zeit in Anspruch. Jedenfalls hat er seinen Brief inzwischen geschrieben und schickt ihn mit dem Nachtschnellzug fort. Morgen früh um Acht können wir ihn hier haben.“

„Und du würdest dann mit dem Neunuhrzug fahren und wärest abends sieben Uhr an Ort und Stelle.“

„Ja – morgen um diese Zeit!“ sagte Alix tonlos.

Der Professor stand auf. „Ich lasse Sie jetzt bei meiner Frau, liebe Alix; muß doch endlich nach meinem Jungen sehen. Keine Angst, Maria, ich weck’ ihn dir nicht auf!“

Er drückte dem jungen Mädchen fest und bedeutsam die Hand und ging aus dem Zimmer. Es war nur ein Vorwand gewesen; er ließ seinen Knaben ruhig schlafen und ging in das kleine Boudoir seiner Frau hinüber, in dem eine rosa verschleierte Lampe brannte. Vom Bücherbrett nahm er auf gut Glück ein Buch herunter und setzte sich damit in einen der tiefen niedrigen Sessel, die umherstanden. Seine Frau und Alix sollten jetzt allein miteinander sein. – – Die Professorin hielt die feine Hand ihrer jungen Gefährtin, die vor Schreck kalt geworden war. Sie hatte eigentümlich beseelte Hände; fest und zuverlässig im Druck, lind und sanft, wenn es Leidende anzufassen galt, geschickt und tüchtig zu jeder Hantierung – „Segenshände“ hatte der Gatte sie getauft.

Unbewußt empfand das verstörte junge Geschöpf den Einfluß dieser Berührung. Alix hob den Kopf und sah empor.

„Ach, Maria, die Ungewißheit – die Ungewißheit! Das ist das schlimmste! Wenn ich heute noch reiste – was meinst du?“

„Nein, Kind! Kannst du wissen, was im Brief steht? Ob nicht irgend welche Bestimmung –“

„Ach, reisen würd’ ich ja auf jeden Fall, selbst wenn es im Brief heißen würde, es ginge besser – nur nicht warten!“

„Ueberweg ist eine vorsichtige Natur. Er wird gewußt haben, was er that, als er dir so bestimmt zu warten anriet.“

„Warten! Ein entsetzliches Wort! Vielleicht, Maria – vielleicht ist Papa schon tot!“

„Gott woll’ es verhüten! In dem Fall bekämst du sicher ein zweites Telegramm. Mein geliebtes Herzenskind!“

Sie faßte das Mädchengesicht in ihre beiden Hände und drückte einen innigen Kuß auf die leise zuckenden Lippen. Jetzt dachte sie nicht mehr an eine mögliche Ansteckung.

„Du bleibst selbstverständlich diese Nacht hier. Ich schicke Bertha hinüber und lasse Françoise Bescheid sagen.“

„Das wolltest du? Und Else –“

„Else geht um sieben Uhr zu Bett, du weißt ja – und ist im übrigen gut dort aufgehoben, das hast du mir selbst gesagt. Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist, dann setz’ ich mich an Werners Bett, und von Zeit zu Zeit komm’ ich, nach dir sehen.“

„Du willst aufbleiben? Aber die Aerzte haben dir gesagt –“

„Daß es besser geht – ja, Gott sei Dank! Aber große Vorsicht und strenge Ueberwachung ist doch nötig … und bei einem so lebhaften Kind wie Werner doppelt. Ach, Liebste, daß sich dies so treffen muß – daß ich nicht mit dir reisen kann! Wirst du mir auch stark und tapfer sein bei allem Schweren, das dich voraussichtlich erwartet?“

Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den wohl niemand, außer Frau Maria, richtig zu deuten gewußt hätte, nickte Alix vor sich hin. „Es muß ja sein! Du wirst doch nicht all diese Jahre umsonst versucht haben, etwas – etwas wenigstens von deinem Charakter auf mich zu übertragen!“

„Als du deinen Vater das letzte Mal sahst,“ begann die Professorin nach einer kurzen Stille, „wie war er da? Fandest du ihn unverändert? Rüstig, wie sonst?“

Alix drehte mechanisch die Depesche hin und her. „Das letzte Mal als ich ihn sah? Das war in London, bei unsern englischen Verwandten – im September vergangenen Jahres. Ich hatte gedacht, er wär’ um meinetwillen herübergekommen, um mich endlich, nach beinahe zwei Jahren, wiederzusehen; aber – du weißt es ja, ich schrieb es dir! – die Geschäfte waren wieder einmal die Hauptsache. Er wollte mit Onkel John, vor allem mit Vetter Cecil Verbindungen anknüpfen, und daß ich gerade dort zum Besuch war, gab ihm den willkommensten Vorwand –“

„Alix!“

„Wem zuliebe soll ich die Wahrheit fälschen – mir zuliebe – dir oder ihm, der jetzt vielleicht auf seinem Totenbett – –“

Sie war aufgesprungen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte nun endlich die leidenschaftlichen Thränen, die dies eigenartige Wesen so schwer fand.

Maria ließ sie weinen. Sie hob die zu Boden gefallene Depesche auf, und ihr Blick blieb an den Worten haften: „Zustand bedenklich!“

„Was habe ich von meinem Vater gehabt, solange ich lebe?“ kam es stoßweise und gepreßt über des Mädchens Lippen. „Was hat er von mir gehabt – haben wollen? Ob ich ihn unverändert fand damals vor einem halben Jahr, hast du gefragt. Aeußerlich sah er aus wie immer – – – aber innerlich? Was weiß ich davon? Und wenn er in dieser Stunde hinübergeht – mir ist sein Geist und seine Seele fremd geblieben, und ich muß sagen: ich habe meinen Vater nicht gekannt! Du weißt, ich kann nicht lügen, und meine Art und Weise mag wohl nicht die rechte gewesen sein – versucht hab’ ich es redlich, ihm näher zu kommen, aber ich konnte und konnte nicht den Weg zu ihm finden!“

Ach, was hätte die gute und kluge Frau darum gegeben, dem Mädchen widersprechen zu können, das selbst ihr so selten die Tiefen dieser Herzensbitterkeit erschloß, von welcher der herbe Zug in seinem sonst so jugendfrischen Wesen stammte! Dem jungen Geschöpf in dem Bilde, das es mit wenigen Strichen so düster malte, einen Lichtblick weisen zu können, der verklärte, versöhnte! Sie suchte umsonst in ihrer Erinnerung. Niemals hatte der Mann, in dessen Haus sie jahrelang gelebt, dessen Kind sie erzogen, eine Empfindung geäußert, die einem liebevollen Herzen entsprang. Später hatte er sie dann und wann pflichtschuldigst aufgesucht und mit einem beinahe fürstlichen Geschenk bedacht, abgesehen von dem reichen Jahrgeld, das er für seine Tochter zahlte …. immer aber war er der wortkarge, zugeknöpfte Geldmensch geblieben.

Er hatte als Geschäftsmann Ungeheures geleistet – hatte sich vom einfachen Mühlenbesitzer in verhältnismäßig kurzer Zeit hinaufgeschwungen zu einem der ersten Großindustriellen seines Landes, er war in den Landtag gewählt worden und in den Reichstag, hatte den Adel und zahlreiche Orden bekommen, war von hohen und höchsten Personen ausgezeichnet worden in jeder Weise – – – seinem einzigen Kind und dessen bester Freundin war er ein fremder Mann geblieben, und alle Annäherungsversuche, offene und versteckte, ungestüme und zarte, sie prallten ab an der unnahbaren Glätte und Kälte dieses Mannes, dem die Ziffer alles war, dem Empfindungen nichts weiter bedeuteten als einen überflüssigen Ballast, der am rüstigen Weiterschwimmen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0455.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)