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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

hindert. Seine Gattin, Tochter eines verarmten Grafengeschlechtes, war ihm nur Mittel zu dem Zweck gewesen, sich eine Stellung in der Welt zu machen. Die ungeheure Enttäuschung, die sie dem Gatten bereitete, als sie ihm statt des erhofften Sohnes und Erben eine Tochter schenkte, verzieh er ihr nie, verzieh er auch dem Kinde nicht, das ihm zeitlebens als eine Art Eindringling erschien. Nachdem die Frau gestorben war im zehnten Jahre ihrer glücklosen Ehe, fand der Witwer keine Muße mehr, sich nochmals zu verheiraten. Er brachte Alexandra zu ihrer einstigen Erzieherin, die inzwischen Frau Professor Laurentius geworden war, und nun konnte er seine volle Kraft dem Unternehmen widmen, das den Angelpunkt seines Lebens bildete. Für das Kind blieb nichts – nichts als eine stets offene Hand, die schenkte und immer nur schenkte, als könne sie damit die Armut zudecken, die im Herzen wohnte. Spät erst, sehr spät hatte Alix es aufgegeben, an dies Herz zu appellieren – stolz und verbittert zog sie sich dann in sich selbst zurück, und wer sie wenig kannte, mußte sie oft launenhaft und unliebenswürdig finden. Frau Maria aber, die den Wuchs dieser dornigen Rose bis zur Wurzel verfolgte, wußte es freilich besser.


2.

Sie schliefen diese Nacht alle nicht viel im Hause des Professors Laurentius. Nur der Knabe hatte ein paar Stunden tiefen, ungestörten Schlummers und ahnte es nicht, daß seine Eltern abwechselnd neben seinem Bett saßen und mit stiller Rührung sein etwas schmal und blaß gewordenes Gesicht betrachteten. Ein gutes, offenes Kindergesicht war es, mit den einnehmenden Zügen der Mutter.

Bald nach ein Uhr wurde der kleine Patient unruhiger, er warf sich im Schlaf von einer Seite zur andern und murmelte unverständliche Worte. Immer aber, wenn er die traumumflorten Augen für ein paar Sekunden öffnete, sah er seine Mutter oder seinen Vater neben sich, und dann spielte ein schwaches, beruhigtes Lächeln um seinen Mund: er wußte sich geborgen in der Obhut seiner Eltern!

Wenn Frau Maria ihrem Gatten den Platz am Bett des Knaben einräumte, so geschah das, weil sie nach ihrer Pflegetochter sehen mußte, die ihr kaum weniger ans Herz gewachsen war als der eigene Sohn. Sie hatte energisch auf Alix einreden müssen, ehe diese sich entschloß, überhaupt zu Bett zu gehen; sie meinte, sie würde doch nicht schlafen können. Aber Maria wies sie immer von neuem auf die anstrengende Reise und die unausbleiblichen Aufregungen des folgenden Tages hin – sie mischte ihr ein beruhigendes Pulver in ein Glas Limonade, half ihr, Stück für Stück, die Kleider ablegen und hielt die Rechte des Mädchens fest in der ihrigen. Es war, wie wenn sich ihre sorgende Zärtlichkeit für Alix heute verdoppelte – armes Kind, das die Mutter so früh verloren hatte und jetzt den Vater hergeben sollte, den es nie recht eigentlich besessen hatte! Nach dem leidenschaftlichen Ausbruch von zuvor sprach das Mädchen jetzt kaum ein Wort, und die Professorin ließ sie gewähren, sie kannte das schon an ihr. Es dauerte wohl eine Stunde, bis die fieberhaft leuchtenden Augen sich leise verschleierten und die Hand aufhörte zu zucken. Ein paar Minuten danach schlief Alix; aber zwischen ihren Brauen stand ein Schmerzenszug, und dann und wann hob ein Seufzer die Brust.

Mit dem Morgengrauen stellte sich bereits Françoise ein, die alles für die Reise ihrer jungen Herrin in Bereitschaft gesetzt hatte und nun kam, um sich Instruktionen zu holen. Françoise Dupont war in früherer Zeit bei der kleinen Alexandra von Hofmann Bonne gewesen, sie war eine „echte Pariserin“, wie sie jederzeit mit großem Stolz betonte. Das Kind sollte ein gutes Französisch lernen, und Françoise verfügte in der That über eine vortreffliche Aussprache und verstand es außerdem, sich bald mit ihrem kleinen Zögling auf vertrauten Fuß zu setzen. Als später die deutsche Erzieherin hinzukam und sich mit einem Schlage die Gunst der Mutter und die leidenschaftliche Liebe des Kindes erwarb, erwachte im Herzen der exaltierten Französin die Eifersucht, und es fehlte wenig, daß sie ihren Posten verlassen und sich nach Paris zurückbegeben hätte. Nur dem ausgleichenden Takt Marias hatte man es zu danken, daß Françoise blieb und sich allgemach in eine Situation fand, die immer noch so viel des Angenehmen und Vorteilhaften bot, daß sie weit hätte suchen können, um eine gleiche zu finden. Als Alix’ Mutter starb, war ihr Erbarmen mit der verwaisten Kleinen so groß, daß sie schwur, sie nie zu verlassen, es komme, wie es wolle. Ueberaus gewandt und geschickt in allen Handfertigkeiten, war Françoise vom Posten einer Bonne zu dem einer Kammerfrau aufgerückt, hatte ihre junge Herrin auf allen ihren Reisen begleitet, war auf diese Weise dreimal in der glücklichen Lage gewesen, „ihr unvergleichliches“ Paris wiederzusehen, und fühlte ihr Geschick mit dem ihrer jungen Gebieterin auf unlösbare Weise verknüpft.

– – Ueberwacht und blaß begab sich die Professorin gerade daran, ihr Hauswesen in gewohnter Weise zu regeln, als Françoise, eine grauhaarige, gutgewachsene Fünfzigerin mit lebhaften schwarzen Augen und scharfen Zügen, im Vorzimmer ihrer habhaft wurde und nach der von ihr beliebten Manier alles auf einmal zu wissen begehrte.

„O, Frau Professorin, bon jour! Wenn man darf sagen bon jour an solchem kalten Nebeltage, wo die Sonne gewiß gar nicht wird zum Vorschein kommen und wo so viel malheur ist in unserem Haus! Was macht sie, ma mignnonne? Hat sie geschlafen diese lange böse Nacht? Ist sie schon wach? Darf ich zu ihr? Hat sie geweint, als sie das große Unglück erfuhr? – Seigneur, wie schnell ist es gekommen, dies Ganze! Und mon petit Werné, der liebe Junge, comment va-t-il? Ich habe gepackt bis gegen zwölf Uhr – die zwei großen Koffer für mademoiselle, und endlich den meinigen auch. Ist der Brief schon da? Darf ich ihn lesen – und werden wir reisen?“

Begütigend streichelte die Professorin das erregte Gesicht. „Vor allem kommen Sie erst einmal ins Speisezimmer und nehmen eine Tasse starken Kaffee mit uns zusammen – das soll uns wohlthun! Alix schläft noch, ich war eben nach ihr sehen – sie hat keine ganz schlechte Nacht gehabt, und mit Werner kann man auch zufrieden sein, er hat sogar schon Appetit! Ein zweites Telegramm ist nicht gekommen; den Brief dürfen wir erst in einer Stunde erwarten. Ich nehme es aber als ganz bestimmt an, daß ihr beide reisen werdet!“ –

Sie saßen dann zu dreien bei der brennenden Lampe – es wollte durchaus an diesem trüben Februarmorgen nicht hell werden – vor dem dampfenden Kaffee; das Ehepaar sehr schweigsam, nur Françoise war es, die sprach. Sie mußte sprechen … in Glück wie in Leid – schweigen konnte sie nicht, es sei denn, daß Alix es ihr geradezu gebot. Und dann empfand sie es als eine große Qual. So ging denn ihre Rede auch jetzt geläufig und rasch, sie erschöpfte sich in Mutmaßungen, welcher Unglücksfall wohl „monsieur“ begegnet sein könne, ob es möglich sei, ihn noch lebend anzutreffen, ob er viel Schmerzen leiden müsse, wie ihre „mignonne“ das ganze Ereignis auffasse – dazwischen horchte sie immer auf den Ton der elektrischen Glocke aus Alix’ Zimmer, wunderte sich, wie man bei solchem Ereignis überhaupt schlafen könne, und pries in demselben Atem den Himmel, daß es dem „pauvre ange“ vergönnt sei, Schlummer zu finden.

In Wirklichkeit war Alix längst erwacht und hatte beschlossen, sich allein zu frisieren und anzukleiden. Sie kannte ihre Françoise und deren Art, über alles, was irgendwie ihr Inneres bewegte, eine wahre Redeflut auszugießen, und sie, Alix, liebte gerade das Gegenteil davon: je mehr sie seelisch ergriffen war, um so schweigsamer wurde sie. Die Professorin hatte darauf bestanden, ihren Zögling ganz unabhängig von der Hilfe anderer zu machen. Alix wußte und verstand sehr vieles, was niemand bei einem so reichen Mädchen vorausgesetzt hätte. Die praktischen Dinge des Lebens lagen ihr keineswegs fern, dank Frau Marias Grundsätzen, die dieser geboten hatten, die junge Erbin zu einem vernünftigen Menschenkind zu machen, das mit wachen Augen um sich schaut und den verschiedensten Lebensbedingungen gerecht zu werden versteht. Jetzt trat sie fix und fertig in einem dunklen Reisekleid ins Zimmer.

Sie beantwortete Frau Marias liebevolle Fragen mit einem Kuß und Händedruck, Françoises Redeschwall mit ein paar kurzen Worten und legte ihre kleine goldene Uhr neben ihre Kaffeetasse: „In zehn Minuten kann der Postbote da sein!“

„Nicht wahr, Sie sind verständig, Kind, und essen und trinken?“ bat der Professor. „Schon meiner Frau zuliebe, die sich um Sie sorgt?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0458.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)