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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

kommen im Schulalter der Kinder hinzu. Während viele Kinder, nachdem sie die Aufregung der ersten Wochen des Schulbesuchs hinter sich haben, munter und frisch wie vorher erscheinen, werden andere, ohne eigentlich krank zu sein, blaß und matt; sie klagen über Kopfweh, sind unlustig und verdrießlich, haben keinen rechten Appetit, wollen namentlich morgens vor der Schule nichts genießen und bekommen wohl gar Erbrechen, wenn man sie dazu zwingen will; abends wollen sie nicht ins Bett, weil sie sich vor dem Alleinsein im Schlafzimmer fürchten. Gewöhnlich hält man sie dann für blutarm; oft sind sie es auch, aber noch öfter sieht man, daß sie wenige Tage nach Beginn der Ferien wieder frisch und munter sind, während eine so kurze Zeit nicht zur Heilung einer wirklichen Blutarmut ausreichen würde. Andere nervöse Kinder sind mehr aufgeregt, sie beginnen zu nachtwandeln oder zeigen Andeutungen von Mondsucht, beides Zeichen unruhigen und zu leichten Schlafes. Wieder andere fallen durch ihre allzu rege Phantasie auf, durch die Leichtigkeit, mit der sie sich ganz in ihre Spielrollen hineinversetzen. Dieser gesteigerte Nachahmungstrieb nervös angelegter Kinder ist auch die Ursache der sogenannten nervösen Schulepidemien, die wohl alljährlich hier und da beobachtet, aber merkwürdigerweise immer noch nicht gleich richtig erkannt und behandelt werden. Wenn z. B. ein nervöses Kind an Veitstanz oder ähnlichen Zuständen erkrankt und davon unnötiges Aufsehen gemacht wird, wenn man einen großen Aufstand um das Kind macht, es im Wagen nach Hause bringt etc., so erregt das die Nerven der andern aufs höchste, und natürlich immer mehr, wenn erst mehrere erkrankt sind und nun zu Hause und in der Schule von nichts anderem gesprochen wird. Die Erfahrung lehrt, daß solche nervöse Epidemien schnell aufhören, wenn man jedes Kind bei der ersten Andeutung nach Hause schickt und ihm sagt: du darfst dich ein paar Tage ausruhen; wenn dir besser ist, kannst du wiederkommen!

Was soll man nun thun, um die Kinder nicht erst nervös werden zu lassen? Man kann doch gar nicht wissen, ob ein Kind dazu beanlagt ist! Das ist aber auch gar nicht nötig; man soll eben alle Kinder so behandeln, daß sie gesunde Nerven bekommen. Dazu gehört zunächst, daß man kleinen Kindern ihre Ruhe läßt. Man soll sie nicht rütteln und schütteln und sie nicht durch stürmische Freudenbezeigungen erschrecken. Ein recht deutlicher Hinweis liegt darin, daß kleine Kinder gewöhnlich Herren lieber mögen als Damen; das kommt daher, daß Herren gewöhnlich die Kinder in Ruhe lassen, während Damen nicht leicht von der Unsitte zärtlicher Küsse abgehen. Sehr wichtig ist, daß man die Kinder nicht übermäßig warm einhüllt, auch das Zimmer nicht etwa über 15 Grad R. erwärmt, daß man das Badewasser nicht wärmer als 26 Grad R. nimmt etc. Ebenso verkehrt wäre es, die Temperaturen zu niedrig zu nehmen, wie es im Anschluß an die Kneippschen Lehren neuerdings öfters geschieht, denn auch dadurch werden die Kinder nervös. Ferner soll man die Kinder vernünftig ernähren, so daß ihre Kräfte den Anforderungen ihres geistigen und körperlichen Wachstums entsprechen, und man soll ihnen genügend Schlaf in ruhigen, gut gelüfteten Zimmern gewähren, damit sie nach der Tagesarbeit reichliche Ruhe finden. Vor dem Schulalter, wo das Kind ja auch beständig geistig und körperlich lernt und arbeitet, ist eine Stunde Liegen in der Mitte des Tages überaus erwünscht, und ebenso sollte man auch in den Schuljahren daran festhalten, zumal wenn im Sommer der Unterricht früh morgens beginnt, der Schlaf aber wegen der schönen Abendstunden auch nicht allzu zeitig begonnen wird. Man muß überhaupt die Schulkinder mehr, als es bisher üblich ist, als wirklich durch die Arbeit angespannt betrachten und sie demgemäß behandeln. Man muß, wenn irgend möglich, dafür sorgen, daß sie ihre Arbeiten in Ruhe machen können, nicht etwa in einem Raume, wo gleichzeitig andere Kinder spielen oder eine Nähmaschine bearbeitet wird oder wo Personen ab- und zugehen.

Sehr wichtig ist es, daß die Erholungszeit weder durch zu anstrengende oder aufregende Spiele noch durch vorzeitige Musikstunden ausgefüllt wird, und daß man die Kinder nicht durch Handarbeiten ermüdet, die dann gewöhnlich zeitweise, z. B. gegen Weihnachten, bis zur Erschöpfung und Unlust gehäuft werden. Bei der Ernährung kommt es auch darauf an, daß die Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten und in nicht zu langen Pausen eingenommen werden, mindestens fünfmal am Tage, und diese Gewohnheit soll auch durch die Schule keine Unterbrechung erleiden. Bei größeren Kindern macht das gewöhnlich keine Schwierigkeit, aber in den ersten Schuljahren haben die Kinder oft zu wenig Trieb, in der Zwischenstunde zu frühstücken; sie haben sich dann zu viel zu erzählen, oder sie haben noch schnell etwas für die nächste Stunde vorzubereiten. Es wäre deshalb sehr erwünscht, wenn die Lehrerinnen, denen ja meist der Unterricht der ersten Schuljahre obliegt, beim Beginn der Zwischenstunde aufforderten: „So, jetzt eßt euer Butterbrot“; dann würden die Kinder stets mit dem größten Vergnügen ihre Frühstücksmahlzeit halten. Sehr verwerflich ist es, wenn manche Lehrer die Stunden nicht pünktlich beendigen und dadurch die Pausen verkürzen, oder wenn den Kindern nicht nach der anstrengenden Unterrichtsstunde in der Pause freieste Bewegung und ungebundenes Entäußern gestattet wird. Wenn Erwachsene nach einer einstündigen Gedankenarbeit das gebieterische Verlangen empfinden, sich durch Auf- und Abgehen im Zimmer oder dergleichen eine Erleichterung zu verschaffen, so muß man das doch erst recht den viel leichter erschöpfbaren Kindern zubilligen. Selbstverständlich muß man auch sorgfältig darauf halten, daß die Luft im Schulzimmer zu Beginn jeder Stunde gut sei, und daß die Schulräume genügend erwärmt und auch wieder nicht zu warm seien, denn jede Abweichung in diesen Verhältnissen schädigt die Fähigkeiten und die Gesundheit der Kinder. Man hält oft genug thörichterweise den Vertretern der Gesundheitspflege entgegen, daß man doch früher ohne solche hygieinische Maßregeln ausgekommen sei, ohne daß die damaligen Schüler an ihrer Gesundheit Schaden gelitten hätten. Abgesehen davon, daß es unsinnig ist, eine zweckmäßige Neuerung deshalb abzulehnen, weil sie „früher nicht gewesen ist“, muß man derartigen Einwürfen doch entgegenhalten, daß sich ja alle Welt darüber beklagt, wie sehr die Nervosität, die Rastlosigkeit, die Sucht nach Betäubung der inneren Unruhe durch künstliche Reizmittel zunehmen; Grund genug, wenigstens der Jugend alles fernzuhalten, was dahin führen kann.

Bekanntlich hat seit etwa zwei Jahrzehnten die Frage der Ueberbürdung der Schulkinder viel Staub aufgewirbelt. Die Behauptung eines deutschen Irrenarztes, daß Ueberbürdung in der Schule wiederholt in späteren Schuljahren völligen geistigen Zusammenbruch und schwere geistige Krankheit hervorgerufen habe, ist längst als unhaltbar erkannt worden. Derartige schwere Erscheinungen treten nur ein, wenn eine sehr üble angeborene Geistesanlage vorhanden ist, die dann zur Zeit des eintretenden Jünglingsalters mehr aus inneren als aus äußeren Ursachen in die Brüche geht. Auch der leider auf so vielen Schulen herrschende Alkoholmißbrauch hat schon oft solche Zusammenbrüche verschuldet. Daß aber sehr viele Kinder im Laufe der Schulzeit Schaden an ihrer Nervengesundheit erleiden, daß sie nervös werden, auch ohne vorher übermäßig dazu veranlagt zu sein, das ist unbestreitbar und allgemein gültig. Von der Schule wird die Schuld gewöhnlich ohne weiteres auf die häuslichen Verhältnisse geschoben, und oft mit Recht. Aber wenn zu Hause Dummheiten gemacht werden, so verpflichtet das die Schule doch nur, vom Standpunkte ihrer überlegenen pädagogischen Einsicht aus ein besseres Beispiel zu geben, auch wo es sich um scheinbare Kleinigkeiten handelt. Ein sehr wunder Punkt ist vielfach noch die zu harte Behandlung der schwächer beanlagten Schulkinder. Die Kinder können doch jedenfalls nichts dafür, wenn sie von den Eltern in Schulen gebracht werden, deren Anforderungen sie nicht gewachsen sind, aber trotzdem werden sie oft für ihre unzureichenden Kräfte gestraft und dadurch in ihrem Gesamtnervensystem schwer geschädigt. Ich wünschte jedem Pädagogen einen Kursus an einer Unterrichtsanstalt für Schwachsinnige, um deutlich zu lernen, daß gerade bei Minderbegabten nur die vollendete Güte und Geduld Erfolge erzielen! Die Ueberfüllung der heutigen Klassen und die zweifellos bestehende Ueberbürdung der Lehrer macht ja vielfach ein genaueres Eingehen auf die Geistesart des einzelnen Schulkindes unmöglich, und in diesem Sinne würde eine gründliche Aufbesserung der Verhältnisse des Lehrstandes ebenfalls sehr dazu beitragen, die Ausbildung der Nervosität bei dem heranwachsenden Geschlecht zu vermindern.

Um nach glücklich überwundenen Schul- und Lernjahren vor

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0470.jpg&oldid=- (Version vom 29.6.2022)