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Blätter und Blüten


Indischer Gaukler. (Mit Abbildung.) „Sie werden sich in Madras langweilen, es giebt hier außer dem Zoologischen Garten nur wenig Sehenswürdigkeiten,“ war bei meiner Ankunft in dieser indischen Stadt die wenig ermutigende Auskunft eines wohlmeinenden Landsmannes, der schon manches Jahr dort seinen Großhandel trieb. Im üblichen Sinne war das schon richtig; es giebt in Indien prachtvollere Bauten als die Kathedrale von Madras, glänzender sind die Paläste und Parks von Kalkutta, malerischer die Villen, die „Bungalows“ der vornehmen Welt Bombays auf dem von der Seebrise gekühlten Malabarhügel. Und der erwähnte Zoologische Garten? Daß Gott erbarm’! Ein Hahn mit drei Beinen, von denen das dritte aussah, als ob es demütig um Entschuldigung für sein unerlaubtes verkümmertes Dasein bäte, war das merkwürdigste Tier dieser armseligen Menagerie. Jeder Berliner würde dort mit Recht ausrufen dürfen: „Unsre Tiger in Berlin sind mindestens noch einmal so groß als eure mageren Bestien hier in der Hauptstadt der Präsidentschaft Madras!“ Abgesehen davon, daß die weitere Umgegend von Madras wahre Schätze für den Wissensdurstigen birgt, giebt es für mich aber überhaupt keinen Ort in Indien, an dem ich mich je langweilen könnte. Kein Volksleben ist interessanter als das der Hindus, man möge hineingreifen, wo man wolle, und in Madras hatte ich gerade Gelegenheit, mit indischen Zauberern Bekanntschaft zu machen.

Wie alle Kasten in Indien hat auch die Klasse des fahrenden Volkes ihre Unterabteilungen. Der Sohn des Bärenführers verliert von seinem Kastenrang, wenn er in die Familie eines Hausierers mit tanzenden Affen heiratet; seine Sprößlinge werden nicht mehr als Bärenführer von „reinem Blute“ betrachtet. Die Tänzerin vergiebt sich nicht wenig von ihrer Würde, wenn sie eine Seiltänzerin zu einer Schüssel „Curry und Reis“ einlädt; dann ist es um ihre Kastenreinheit völlig geschehen! Ja, selbst das Schmauchen von ein paar Zügen ans der Wasserpfeife eines gewöhnlichen Taschenspielers bringt dem „Schlangenbeschwörer“ den Verlust seiner Kastenreinheit. Halb Schlangenzauberer, halb gewöhnlicher Gaukler, muß er nun mit andern Künstlern „von gemischter Kaste“ seinen Reis essen: dafür macht er sich auch kein Gewissen daraus, seinen früheren Berufsgenossen Konkurrenz zu bereiten und neben den Glanznummern fingerfertiger Taschenspieler auch den Schlangentanz zu produzieren.

Einen solchen Universalzauberer stellt unsere Abbildung dar. Vor dem Hause, das der Deutsche Klub in Madras bei meiner Anwesenheit bewohnte – er hat inzwischen ein schöneres Heim bezogen –, läßt sich die Dienerschaft etwas blauen Dunst vorgaukeln. Der feiste Hausverwalter, im europäischen Jackett, der tamulische Gärtner mit seiner Familie, der „Boy“ (d. h. der „Bursche für alles“) in seiner Ecke sowie der neben der Säule lehnende verachtete Straßenkehrer, sie alle wissen, daß jetzt um 11 Uhr vormittags die gestrengen weißen „Sahibs“ (Herren aus Europa) an ihren Comptoirtischen schwitzen und das Vergnügen hier nicht stören werden.

Ein indischer Gaukler.
Nach einer photographischen Aufnahme von Dr. K. Boeck in Dresden.

Mit Staunen und mißtrauischem Entsetzen bewundern sie die unheimlichen Künste des Wundermannes. Noch stehen die kleinen Holzglocken vor ihm, mit roten, gelben und grünen Ringen bemalt, unter denen er runde Nüsse erscheinen und verschwinden läßt, ein uraltes Kunststück, das die europäischen Taschenspieler nachgeahmt haben und das bei uns in keinem „Zauberkasten für Kinder“ mehr fehlt. An einer der Glocken lehnt auch noch das ausgestopfte Püppchen, das auf geheimnisvolle Weise Leben und Tanzlust in die Glieder bekam.

Diese und ähnliche unbedeutende Eingangsnummern sind jetzt beendigt; eben hat der Tausendkünstler noch schnell ein paar Kleinigkeiten aus dem Munde gezogen: ein geöffnetes Taschenmesser, ein kleines Stachelschwein und fünf rohe Hühnereier. Doch jetzt ist er auf der Höhe seiner Kunstfertigkeit. Er wickelt einen dürren meterlangen Lederstreifen auseinander und hält ihn aufgerollt weit und frei hinaus in die Luft. Unter Beschwörungen in hindostanischem Zigeuner-Rotwelsch schwingt er das Band hin und her – und siehe da, ein paar blanke Aeuglein blitzen aus dem unten herabhängenden Ende hervor, das Leder beginnt sich zu winden, zu drehen, zu wölben – mit triumphierendem Schrei schleudert der aufspringende Teufelskerl eine lebendige Schlange den erschreckten Zuschauern entgegen.

Und des Rätsels Lösung? Sehr einfach.

Unbemerkt in dem Schatten einer breitblätterigen Platane neben meinem photographischen Apparat stehend, hatte ich die Hand des Künstlers unverwandt beobachtet. Vor ihm lag ein offener Sack, der seine dürftigen Geräte barg; der Rand dieses Sackes war locker zusammengerollt, schien mir aber hin und wieder verdächtig zu zucken. Der Gaukler zeigt den Lederstreifen, hält ihn weit von sich, dreht ihn zur Prüfung hin und her – vorne nichts, hinten nichts! „O weh,“ sagt er plötzlich mit gut gespielter Bestürzung, „ich habe ja ganz vergessen, daß ihr nachher den Mangobaum wachsen sehen wollt!“ Dabei legt er das Lederband aus der Hand, und wie zufällig auf den Sackrand: dann nimmt er ein paar Mangokerne aus dem Beutel, bohrt neben sich ein Loch in die Erde, steckt anscheinend den vom Publikum gewühlten Kern hinein, bedeckt ihn mit Erde und spricht sein Hokuspokus darüber, „auf daß der Kern treibe“. In Wirklichkeit hat aber der Schlaumeier einen bereits zum Keime angetriebenen Kern verscharrt und fährt dann in dem angefangenen Kunststück fort.

Natürlich ergreift er jetzt beim Aufnehmen des Streifens die in dem Sackrand eingerollte Schlange so geschickt, daß sie von dem gleichfarbigen Streifen verdeckt bleibt, den er allmählich mit den Fingerspitzen aufrollt, worauf niemand achtet, da ja alles entsetzt auf den unten hervorzüngelnden Schlangenkopf starrt. Um den berühmten Mango-Trick aber war es für diesen Tag geschehen! Während nämlich der schwarze Schwarzkünstler seinen Schlangenzauber ausübte und den Mangokern sicher im Schoß der Erde wähnte, stapfte ein auf dem Hof herumsuchendes Hühnchen herbei, durchstöberte die frisch aufgewühlte Erde und schleppte den bereits angetriebenen Fruchtkern heimlich seitwärts in die Büsche.

Gerade diesen Augenblick nahm ich wahr und photographierte den gefiederten Dieb in flagranti, war aber schadenfroh genug, dem Zauberer die Aufklärung zu verschweigen, als er vergeblich mit verstörtem Gesicht in der lockeren Erde nach dem angeleimten Kerne herumsuchte. Ich trat nun hervor und tröstete den Mann mit dem geistreichen Bemerken, daß es noch wertvollere Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe, die spurlos verschwänden.

Dem fahrenden Künstler schien es aber in dem Hofe des Deutschen Klubs nicht mehr recht geheuer vorzukommen – vielleicht meinte er auch, daß ich ihm in der Hexerei „über“ sei – er machte sich aus dem handhoch liegenden Staube, indem er mir giftig zurief: „Sie werden massenhaftes Geld bekommen, aber Sie werden damit nicht lebendig nach England zurückkehren!“ – Daß es nämlich außer England noch andere Länder in Europa giebt, wird den Hindus geflissentlich verschwiegen, und ich galt gewiß bei vielen für einen Erzaufschneider, wenn ich auf die Frage, ob Deutschland denn keine Provinz von England sei, höflichst erwiderte, daß dies nicht der Fall und im übrigen Deutschland beinahe noch einmal so groß sei wie England! Dr. K. Boeck.     

Gerettet. (Zu dem Bilde S. 456 und 457.) Das ergreifende Bild von R. F. Curry führt uns eine Scene an der Paßstraße des großen St. Bernhard vor. Von Martinach im Wallis sind Vater, Mutter und Kind aufgebrochen, um durch die schweigenden Einöden des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0483.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)