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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Hochgebirges den Weg in die südliche Heimat, vielleicht in die nahen üppigen Gelände von Aosta, zu suchen. Schon liegen die letzten menschlichen Wohnungen hinter ihnen, die Dranse psaltert in den Felsenklüften ihr Donnerlied, an den Gipfeln ist der Herbststurm los. Da erscheint vor den ermüdeten Wanderern das schreckliche Gespenst der Berge, die „Guxete“. Aus einem Schlund des Gebirges saust eine schwarze Wolke, verfinstert mit ihrem Schneegestöber den Weg, die Armen finden den Atem nicht mehr, so reißt und schüttelt sie die Windsbraut, und herzlähmend dringt die Kälte ins Mark. Der Spuk geht rasch vorbei, ein Stündchen noch, dann ist das rettende Hospiz erreicht. Aber das Gespenst erscheint wieder – wieder! Das Kind wimmert: „Mutter, ich bin müde.“ Und jetzt schleicht sich auch den Eltern der Gedanke verführerisch in die ermattenden Sinne: „Ein wenig ruhen!“ Und da stockt der Fuß, schlafüberwältigt sinken sie nebeneinander hin und der Sturm überschüttet mit seinen Flocken den letzten heimatsüßen Traum der Sterbenden. Er soll milde und schmerzlos sein, der Tod auf verschneitem Paßweg! – Diese Verunglückten aber erwachen wieder zum Leben. Sobald die „Guxete“ oder Lawinen im Gebirge wüten, wird es auf dem Hospiz lebendig, die Chorherren des heiligen Bernhard mit ihren Klosterknechten und ihren treuen Hunden sind zur Rettung der Reisenden unterwegs, und mit dem ihnen eigenen Spürsinn wittern die Tiere die Opfer im höchsten Schnee. Sie scharren und wühlen, bis sie die Verschütteten frei haben, sie schnuppern an ihnen, bis die Schlafenden erwachen, sie stellen sich vor die Erschöpften hin, damit diese dem Fäßchen, das ihnen am Halse hängt, den stärkenden Trunk entnehmen, und melden den nachfolgenden Klosterknechten ihren Fund mit freudigem Gebell. Der Volksmund weiß von den Bernhardinerhunden die rührendsten Legenden zu erzählen, und zahlreiche Künstler haben ihre Thaten verherrlicht. Ihr Held ist und bleibt jener Barry, der 17 Reisende aus sicherm Tod gerettet hat, zuletzt aber das Opfer seines Werkes geworden ist, indem er von einem Geretteten, der ihn für einen Wolf hielt, erschlagen wurde. – Seit dem Jahr 962, also über ein Jahrtausend schon, üben die Jünger St. Bernhards ihr Werk der Barmherzigkeit. In den letzten Jahrzehnten ist manches geschehen, damit sich die eisigen Totenkammern des Hospizes nicht mehr mit so vielen Opfern füllen wie früher; mit der Mont Cenis- und Gotthardbahn bestehen Verträge, die den italienischen Konsuln in Frankreich und der Schweiz erlauben, arme Heimatangehörige zu billigstem Entgelt sicher durch die Schrecken der Berge zu führen, und die 12000 bedürftigen Reisenden, die dennoch jährlich die Mildthätigkeit des Hospizes in Anspruch nehmen und seine Mittel beinahe erschöpfen, verteilen sich auf die Jahreszeit, in der die Straße nicht zu gefährlich ist. Von Zeit zu Zeit wiederholen sich doch noch die alten Unfälle und die alten Rettungen und erneuen den Ruhm der Bernhardinerhunde. Im Sommer ziehen reisefrohe Touristen die Menge über den großen St. Bernhard, und nach der Ordensregel stellen die Chorherren auch ihnen für Speise und Trank keine Rechnung, aber wer legt angesichts des großartigen menschenfreundlichen Werkes, das sie erfüllen, dafür nicht gern einen stattlichen Obolus in den Opferstock oes Hospizes? H–r.     

Ueberrascht. (Zu dem Bilde S. 465.) Hier am letzten Gartenende, wo die Wege eng werden zwischen dicht wuchernden buntfarbigen Blumenbüschen und darüber herabgreifenden Baumzweigen, hier in dieser sonnigen Stille tritt endlich ein langverschwiegenes Geständnis auf die Lippen, und zwei Herzen schlagen in banger Seligkeit dem Augenblick entgegen, der sie auf immer vereinigen soll. Da – während das erglühende Mädchen noch die Augen zu Boden senkt und Er, kühner werdend, in verlangender Liebe ihre Hand faßt, da öffnet sich das Pförtchen zum Nachbargarten. Die beiden achten nicht auf das leise Geräusch, sie sind so verloren in die Wogen ihrer Empfindungen, daß die Außenwelt nicht zu ihren Sinnen dringt. Auch wird kein weiteres Geräusch laut: die eintretende Freundin bleibt erschrocken, regungslos stehen, was sie erblickt, macht stille Hoffnungen, die sie für das eigene Herzensglück bisher gehegt, zu Schanden. Im nächsten Augenblick wird sie versuchen, leise, leise rückwärts wieder zu entkommen, bevor die beiden dort ihre Gegenwart bemerken. Und dann werden die Gebüsche da drüben den Schmerz der einen ebenso mit ihrem Schatten zudecken wie hier das Glück der anderen, während die Sonne ihren milden Schein über das Ganze breitet. Bn.     

Regenwetter.
Nach einer Originalzeichnung von E. Unger.

Die Heimkehr des Vaters. (Zu dem Bilde S. 469.) Der Beruf als Seemann hat seine rauhen Seiten, und es ist nicht immer ein Vergnügen, sein Tagewerk auf dem Wasser zu treiben. Und nicht bloß der „Schiffer für große Fahrt“, auch der Fischer, der in seinem Boot dem rauhen Handwerk des Fischfangs nachgeht, kann von der Mühsal erzählen, daß er im Schweiß seines Angesichts sein Brot essen, oder mit erstarrten Fingern das Netz aus eisigem Wasser heben muß. Es sieht es keiner dem zappelnden „Turbot“ (Thors Butt!), der schmackhaften Makrele oder dem scharlachroten Hummer an, was für Mühe und Arbeit dazu gehörte, sie auf die Tafel des Mannes am Lande zu bringen. Auch der Hochseefischer weiß ein Lied davon zu singen, was Sturm und Nebel und Regenbö und Schneesturm bedeuten. Schweigsam und wortkarg geht er seinem Berufe nach unter Gottes freiem Himmel. Am Tage traumhaftes Hindämmern im Boot, wenn das Netz hinter dem Kahn im Wasser gleitet; rauhes Dasein, wenn der heulende Orkan über die See hinfaucht, das Boot sich auf die Seite legt und klatschend die Spritzer über den Dollbord spülen, daß der Fischer sich fluchend die Augen auswischt mit dem Aermel. Einsames Leben, wenn in stiller Nacht hier und da ein gelber Lichtschein wie schwankend und wankend über die See herscheint: die mattleuchtende Laterne am Mast des Fischerbootes – aber wie der Fischer vor Morgengrauen sein Segel festmacht und zu Anker geht, da leuchtet ihm aus dem Fenster seiner Hütte mit flackerndem Glutschein das Feuer, über dem der rußige Kessel mit dem kochenden Kaffee hängt, und mit Behagen denkt er an das hochgetürmte, warme Bett. – Es ist Abend; Sonnenuntergang. Blank und leuchtend liegt die See da. Der Fang war gut. Am Strande hat sie heute gewartet, seine junge Frau; sein Kind hat sie ihm entgegengehalten. Viel gesagt haben sie sich nicht, aber es lag stille Freude auf ihrem Gesicht. Dann nahm er das Kind; sie das Netz; so gingen sie nach Haus; und einen Korb mit Heringen trug sie dazu, zur Abendmahlzeit, und das Kind griff mit ungeschickten Händchen nach dem Hummer, den der Vater lächelnd ihm hinhielt: „Nee, min Jung, dat is nix för di; bekiek di dat man mal, äwer lat de Fingern davon; dat Beest kniept bannig un dat deiht weh“; und leise spült die See auf den festgeschlagenen Strand. H–s.     

Im Märchenbanne. (Zu dem Bilde S. 473.) Atemlos horchend sitzen die kleinen Ferienkolonisten um die gute Schwester her, deren Obhut sie für diese Sommerwochen anvertraut sind. Sie pflegt das Wohlverhalten des Morgens durch eine Geschichte am Nachmittag zu belohnen, und es ist erstaunlich, wie viel wunderbare und nie gehörte Märchen die stille Klosterfrau den Kindern zu berichten weiß. Ach, diese ahnen ja nicht, daß das Frauenherz unter dem schwarzen Ordenskleid dereinst voll Lebensfreude schlug, aber sein junges Liebesglück ins Grab senken mußte und nun statt der gehofften eigenen Kinder die fremden mit mütterlicher Liebe umfaßt und ihnen die Schätze der Erinnerung mitteilt! Sie wissen nur, daß sie die Schwester Beate ganz ungeheuer lieb haben und daß überhaupt hier in ihrer Nähe unter dem Holunderbaum auf der grünen Wiese der allerschönste Fleck der Erde ist. Und die junge Nonne selbst, in deren Herz nach schweren Kämpfen der Friede eingezogen ist, sie sieht mit mildem Blick in die Kinderaugen und fühlt innerlich die stille Freudigkeit, welche der Lohn selbstloser Menschenliebe ist!

Urson, von Wölfen angegriffen. (Zu dem Bilde S. 477.) „Die Stachelschweine sehen erschrecklich aus und sind die allergefährlichsten Tiere. Werden sie verfolgt, so fliehen sie mit Windesschnelle, nicht aber, ohne zu kämpfen; denn sie schießen ihre todbringenden Stacheln gerade hinter sich gegen den Feind. Der Jäger darf den Stacheln gerade daher keinen Hund gegen sie loslassen, sondern muß sie mit List fangen.“ Solches erzählte ein alter Schriftsteller von dem Stachelschwein, das in Südeuropa und Nordafrika lebt. Heute wissen wir, daß dies eine arge Uebertreibung ist. Das Stachelschwein ist nicht schrecklicher als unser Igel. Wohl aber lebt in Nordamerika ein Verwandter der Stachelschweine, der Urson, der, besser bewehrt, für seine Angreifer einen grimmigen Gegner abgiebt.

Der etwa 80 cm lange Leib des Urson ist mit einem dichten Pelz bedeckt, der stellenweise in dicke scharfe Borsten übergeht, zwischen den Haaren und Borsten stehen namentlich an der Oberseite und am Schwanze scharfe bis 8 cm lange Stacheln. Das braun und grau gefärbte Tier klettert geschickt auf Bäume und nährt sich dort von der Rinde der Aeste und Zweige. Es läßt andere Geschöpfe in Ruhe, wird aber, wenn es angegriffen wird, zu einem gefährlichen Gegner. Naht ihm ein Raubtier, so sträubt der Urson seinen Pelz und betrachtet mit gesenktem Kopfe den Feind. Springt nun dieser heran, um die Beute zu fassen, so erteilt ihm der Urson mit der Schwanzspitze einen starken wohlgezielten Schlag. Die Wirkung desselben ist so furchtbar, daß der Angreifer bald von jeder weiteren Verfolgung absieht. Die Stacheln des Urson sind überaus scharf und sitzen so locker in der Haut, daß sie nach erfolgtem Schlag in den Wunden des getroffenen Gegners stecken bleiben. Maul, Nase und Zunge des Raubtieres sind mit ihnen gespickt und das arg verwundete Tier ist oft nicht mehr in der Lage, die Kinnladen zu schließen. Man hat beobachtet, daß verschiedene Raubtiere wie Wölfe, Luchse und Pumas an derartigen Verletzungen zu Grunde gegangen sind. In gleicher Weise wird der Urson auch den Jagdhunden gefährlich und das war die Ursache, daß die Jäger ihm überall nachstellten und das Tier in vielen Gegenden schon völlig ausgerottet haben. *     



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0484.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)