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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Diese aber war immer für sie da, ging mit ihr spazieren, fuhr mit ihr aus, war beim Lernen dabei und saß auch neben ihr, wenn sie spielte. Aber selbst zu spielen, dazu war die arme liebe Mama wohl zu traurig! Françoise that nur das, was ihr Liebling wollte, aber selbst etwas angeben, etwas ausdenken, das konnte sie nicht, und die drei Erzieherinnen, die Alix von ihrem sechsten bis zu ihrem achten Jahr hatte, wußten gleichfalls nicht, das lebhafte Kind anregend zu beschäftigen. – – – Das wurde mit einem Schlage anders, als Maria Normann ins Haus kam. Alix’ Mutter sah es – mußte es sehen, wie ihr Kind sich unter der klugen und liebevollen Leitung dieses Mädchens wunderbar entwickelte, wie Triebe und Keime zum Vorschein kamen, welche die schönsten Knospen und Blüten versprachen, wie sie spielend lernte und beim Spiel angeregt und belehrt wurde, ohne es zu ahnen. Eine schöne, glückliche Zeit war es gewesen, da das Kind mit Mama und ihrem geliebten Fräulein, sowie mit ihrer guten Françoise leben konnte. Sie hatte damals ihres Vaters Liebe und Sorgfalt nicht im geringsten entbehrt, reich, wie sie sich fühlte in der behütenden Zärtlichkeit dieser drei!

Mama war schön. Deutlich sah Alix im Geist die vornehme, hochgewachsene Gestalt, die anmutigen Bewegungen, das weiße, feine Gesicht. „Katharina, du hast doch verteufelt viel Rasse!“ hatte einmal Graf Alexander Holsten-Delmsbruck, ein rechter Vetter von Alix’ Mutter, bemerkt, und das Kind, das zugegen war, hatte neugierig gefragt, was „Rasse“ sei. Da hatte Onkel Alexander, ein sehr flotter Gardeoffizier und der Pate der Kleinen, nach dem sie auch den Namen hatte, gelacht, hatte sie in seine beiden Arme gefaßt, vor sich hingestellt und gesagt: „Schau dir ’mal uns beide an, deine Mama und mich, kleiner Käfer! Findest du nicht, daß wir beide Aehnlichkeit miteinander haben?“ Alix verglich ernsthaft die beiden Gesichter – ja, sie mußte es zugeben, sie glichen sich. „Nun also! Wenn Leute so groß und schlank sind wie wir zwei, und dabei doch so schmale Hände und kleine Füße, eine so biegsame Taille und solch’ feine Kopfform besitzen wie wir zwei – dann nennt man das ‚Rasse haben‘, was soviel heißen will, als: aus einem guten alten Adelsgeschlecht herstammen – verstanden? Lach’ nicht, Katharina, ich finde, ich hab’ eine sehr lichtvolle Auseinandersetzung geleistet für ein neunjähriges Verständnis!“

Mama verhielt sich ziemlich kühl gegenüber ihrer ganzen Umgebung. Selbst Maria Normann, so sehr sie von ihr eingenommen war, bekam immer nur die Gebieterin, die geborene Gräfin Holsten-Delmsbruck zu Gesicht – was an Gefühl und Innigkeit in der schönen Frau war, gehörte nur dem Kinde. Für die Interessen und Beschäftigungen ihres Gatten zeigte die Dame nicht das geringste Verständnis; ob er seinen Betrieb ausdehnte oder einschränkte, ob er baute oder niederriß, Ländereien ankaufte oder veräußerte, ob er hundert Arbeiter anwarb oder entließ, das war ihr so völlig gleichgültig, daß sie es nicht für wert hielt, auch nur eine Frage deshalb zu thun. Die Oberbeamten wurden ihr pflichtgemäß vorgestellt und von ihr pflichtgemäß dann und wann herangezogen – von den zahlreichen Unterbeamten, den vielen Angestellten, die in ihres Mannes Dienst arbeiteten, wußte sie nichts. Sie vergaß ihre Namen und ihre Gesichter, sowie sie zur Thür hinaus waren, wenn der Zufall sie jemals mit ihnen in Berührung brachte. Sich um die Arbeiter, ihre Lohn- und Wohnungsverhältnisse, ihre Lebensbedingungen zu kümmern, fiel ihr vollends nicht ein. Maria Normann aber machte mit dem Kinde Gänge und Fahrten in die stetig wachsende Kolonie, nannte ihm die Namen der verschiedenen Betriebe und ihrer Leiter, suchte einiges Interesse für die vielen Menschen, deren gemeinsame Thätigkeit der Familie Hofmann zu Reichtum und Ansehen verhalfen, in der Kleinen zu erwecken und war glücklich, als dies Bemühen nicht ohne Erfolg blieb. Alix’ Mutter legte dem nichts in den Weg, aber sie selbst that auch nichts dazu – es wurde dies von ihr als eine kleine „Eigentümlichkeit“ der sonst so vortrefflichen Erzieherin geduldet.

An der Hand der Erzieherin ging Alix nun mehrmals wöchentlich durch die schnurgeraden Straßen der „Kolonie Josephsthal“, die rechts und links mit gleichförmig aufgebauten Häuschen besetzt waren. Hier spielten kleine Kinder vor den Thüren, dort saßen Hausfrauen auf der Schwelle und putzten Gemüse oder besserten Kleidungsstücke aus; Alix wurde angehalten, ihnen im Vorübergehen zuzunicken, den Kindern gelegentlich die Hand zu reichen, sie dies und jenes zu fragen. Sie that es mit guter Manier und einem kleinen innerlichen Herrscherbewußtsein: die alle haben mir zu dienen, und ich kann ihnen befehlen! – Lieber aber als in die Kolonie ging sie doch mit Fräulein Normann in die Maschinenräume der Oel-, Dampf- und Walzmühle. Ihre großen Kinderaugen staunten die gewaltigen keuchenden, rasselnden und fauchenden Ungetüme, die sich mit ihrem vielgestaltigen Räder- und Schraubenwerk unaufhörlich bewegten, mit einer Art von schauderndem Respekt an. Sie stießen sie ab und zogen sie in geheimnisvoller Weise wieder an, diese Maschinen, sie kamen ihr wie lebende Wesen vor, die ihren Tribut forderten, und immer mußte sie in Angst sein um die Menschen, die so sicher und scheinbar unbekümmert zwischen all den Walzen und Hämmern, den Kurbeln und Rädern herumhantierten, über schmale Brettchen hinweggingen, durch Luken krochen und kleine Treppen erklimmten. Zuweilen kam der Oberingenieur und erklärte Fräulein Normann einzelne Dinge, nach denen sie fragte.

Da war mitten hinein in dies Leben, in welchem das Kind unbewußt sich so wohl fühlte, ein jäher, schrecklicher Schlag gefallen: die Mutter war erkrankt an einem anscheinend ganz harmlosen Fieber, das rasch, binnen kaum zwölf Stunden, einen bösartigen Charakter annahm und die zweiunddreißigjährige Frau hinwegraffte, ehe ihre Umgebung noch recht zur Besinnung gekommen war.

Die ersten Tage mit ihrem dumpfen Schreckgefühl, die Tage, da fast die ganze hochadelige Verwandtschaft der Verstorbenen erschienen war, um der schönen Katharina von Holsten-Delmsbruck die letzte Ehre zu erweisen – das feudale Leichenbegängnis mit seinem düstern Pomp, die Feier in der erleuchteten Kapelle, die schwarzen Gewänder, die Thränen und Seufzer …. all das war für das einzige Kind der Toten noch nicht das schwerste gewesen. Das kam erst, als die Verwandten abgereist waren, als die Zimmer der Verstorbenen aufgeräumt, ihre Kleider verschlossen wurden, als alles, alles wieder ins Geleise des täglichen Lebens einlenkte – und nur die Mutter nicht mehr da war.

Alix konnte das nicht fassen. Zügellos brach ihr ungestümer Kinderschmerz hervor, rührend und erschreckend zugleich für ihre Umgebung. Sie verweigerte Essen und Trinken, wollte sich unten im Grabgewölbe der Kapelle über Mamas Sarg werfen und da liegen bleiben, bis sie tot sei, sie wollte nichts sehen und nichts wissen von allem, was ihr bis dahin lieb und wichtig gewesen war: Mama sollte da sein – Mama sollte kommen und sie holen – ein Leben ohne Mama gab es nicht für sie! Françoise war in dieser Zeit ganz machtlos dem leidenschaftlichen Kinde gegenüber. Nur Maria Normann hatte ihren Einfluß nicht ganz eingebüßt. Sie wurde nicht müde, über Mama zu sprechen, sie saß stundenlang mit dem Kinde in der Kapelle und flocht Kränze, sie stand mitten in der Nacht auf, wenn sie Alix in ihrem Bett weinen hörte, zündete Licht an, nahm das Kind auf ihren Schoß, betete und weinte mit ihm, bis das müde Köpfchen zurücksank und Alix inmitten ihrer Thränen einschlief. Als aber eben der erste fassungslose Jammer des kleinen Mädchens zu verstummen begann, da mußte Maria Normann auf mehrere Wochen fort – ihr Vater war in Dresden auf den Tod erkrankt und rief die einzige Tochter zu sich. Es hatte einen über die Maßen aufregenden Abschied gegeben, ein endloses Fragen: „Du kommst doch wieder?“, ein unaufhörliches Versprechen: „Ich bin bald, bald wieder bei dir!“, bis Françoise das Kind mit Gewalt aus den Armen ihrer Erzieherin reißen mußte. –

Und in den schrecklichen Wochen, die nun folgten, da das Kind, trotz täglicher Nachrichten von Maria, sich namenlos einsam fühlte und sich sehnte und sehnte, bis es fast verging – – da war es gewesen, daß Alix der Gedanke kam, Trost bei ihrem Vater zu suchen.

Eines Abends, als Françoise fortgegangen war und Papa in seinem Zimmer saß und arbeitete – o, wie zum Greifen deutlich sie das jetzt noch alles vor sich sah! – da war sie, ein kleines, furchtsames Geschöpf, mit hochschlagendem Herzen durch den langen erleuchteten Korridor gehuscht, hatte leise die Thür geöffnet und hatte in dem hohen, ernst ausgestatteten Gemach, wo der Hausherr im Sessel vor seinem Schreibtisch saß, seine Rechte, die eben die Feder zum Schreiben ansetzte, mit ihren beiden zitternden Kinderhändchen niedergezogen und mit flehender Stimme gebeten: „Papa – lieber Papa, sprich mit mir von Mama!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0486.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)