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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Es kam zuweilen sogar vor, daß Herr von Hofmann, angesichts eines besonders schönen Juwelierladens oder Modewarenmagazins, seine Tochter fragte: „Möchtest du etwas haben, Alexandra?“ (Er nannte sie niemals Alix!) „Wünschest du dir etwas?“ – Dann zuckte es wohl heiß und wehevoll in ihrem Herzen, und sie hätte ausrufen mögen: „Deine Liebe will ich haben!“ Aber sie sagte nichts davon – was hätte es denn genützt? Ist eine Liebe, um die man bitten muß, überhaupt Liebe zu nennen?

Einen einzigen Wunsch hatte sie freilich mehrfach geäußert und immer vergebens: den Wunsch, einmal wieder in ihre Heimat zu kommen! Wie lange war sie nicht mehr dort gewesen!

Daß an Stelle des alten Wohnhauses ein neuer schloßartiger Bau entstanden war, wußte Alix; eine große Photographie davon hing über ihrem Schreibtisch. So stolz und stattlich das Schloß anzusehen war, das junge Mädchen konnte es nie ohne Wehmut betrachten. Nun existierten die Räume nicht mehr, in denen sie mit ihrer Mutter geweilt hatte! – Mamas blaues Boudoir, in dem immer weiße und lichtgelbe gefüllte Nelken dufteten … Alix’ gemütliches Kinderzimmer mit seinen Etageren und Puppenschränken, Marias Gemächer, die oben lagen und einen so schönen weiten Blick über den Park gewährten – ach, und die Sessel, die Sofas und Bilder, an die sich so liebe Erinnerungen an Mama knüpften! Alix wußte, daß das ganze Mobiliar durchweg erneuert worden war – wo mochten all die vertrauten, alten Sachen hingekommen sein? Sie wagte es nicht, ihren Vater danach zu fragen, wagte es auch nicht, gegen seinen ausgesprochenen Wunsch und Willen nach Josephsthal zu kommen. Er hatte sich bei den verschiedensten Gelegenheiten außerordentlich mißbilligend über alle Überraschungen geäußert: sie fielen gewöhnlich ins Wasser, brächten den Beteiligten fast immer Enttäuschungen, oft sogar direkten Schaden, und er für seine Person sei ein abgesagter Feind von derlei Dingen, und müsse sie sich allen Ernstes verbitten.

So war denn Alix ihrer Heimat gänzlich entfremdet und trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu derselben zurück. Im Hause des Professor Laurentius wehte eine freie und reine Geistesluft, und Alix hatte von dieser gesunden Luft innerhalb der letzten fünf Jahre genug eingesogen, um den Gedanken, als Herr über viele gesetzt zu sein, denen man nützen und helfen könne, groß und schön zu finden und mit fast leidenschaftlichem Verlangen zu wünschen, ihr Vater möge in ihrem Sinn und Geist, in ihrer Auffassung seiner hohen Aufgabe gerecht werden. So wie sie ihn zu kennen meinte, zweifelte sie indessen stark an seinem Willen dazu. Daß er ihr nie Auskunft darüber geben würde, schien ihr ziemlich gewiß; dennoch wagte sie ein- oder zweimal eine Frage, die darauf Bezug hatte, erlebte aber eine sehr schroffe Abweisung: das seien Dinge, die Frauen, und wenn es die klügsten ihres Geschlechtes wären, überhaupt nicht verstünden und hoffentlich auch in Zukunft nie verstehen würden! Aus Büchern, Zeitungsberichten, Reichstagsverhandlungen und so weiter könne man sich absolut kein Material für die rechte Beurteilung dieser Verhältnisse bilden, das liefere dem Mann, der mitten darin stände, einzig nur das praktische Leben und die Erfahrung – – alles andere sei eitel Theorie und leeres Gerede; mit dem Schwärmen für Menschenbeglückung möchten die Phantasten, die oft noch einen weit schlimmeren Namen verdienten, den Besitzenden das Geld aus der Tasche holen – das sei alles! Für Alix’ Einwürfe, die ihm den und jenen Fabrikherrn namhaft machte, der neben seinem eigenen Wohl auch das der ihm Unterstellten besonders berücksichtigte, hatte Herr von Hofmann nur ein geringschätziges Achselzucken: das komme nicht nur auf den Herrn selbst, sondern auch auf den Menschenschlag an, mit dem er es zu thun habe, – im übrigen müsse jeder zusehen, wie er mit seinem lebenden Arbeitsmaterial fertig werde!

Mit solchen Bemerkungen mußte das junge Mädchen sich abspeisen lassen – aber die Worte „lebendes Arbeitsmaterial“ klangen ihr oft, wie oft! noch in Ohr und Herzen wieder!

Sollte wirklich aus den Reihen dieses „lebenden Arbeitsmaterials“ die tödliche Kugel auf den Herrn und Gebieter der Kolonie Josephsthal abgesandt worden sein?




4.

Rasselnd, sausend, keuchend fliegt der Bahnzug durch die dunkle Landschaft. Funken stieben gen Himmel, ganze Garben, wie von zorniger Faust emporgeschleudert. Weithingedehnt, unübersehbar ruht das Land unter der weißen Schneedecke. Die Sterne stehlen sich einzeln unter schwerziehenden Wolken hervor und blinzeln matt auf die ruhende Welt herunter. Ruhend? Ach, wie viel Hasten und Sorgen und Mühen, wie viel Quälen und Aengstigen hier unten, und wie wenig, wie wenig wirkliche, wohlthuende Ruhe!! –

Françoise hat lange Zeit im Coupé geschlafen, jetzt ist sie eine Weile wach und hat mit inniger Genugthuung bemerkt, daß die ruhelosen, großen Augen, die so weit geöffnet ins Licht gestarrt hatten, endlich, endlich geschlossen sind. Mit vorsichtiger Hand schiebt die Französin eines der weichen seidenen Kissen unter den Kopf des jungen Mädchens, zieht die Reisedecke höher und verdunkelt die Lampe, so daß nur ein matter Lichtschimmer durch den blauen Vorhang dringt. Geschäftig kramt sie Wein und kleine Appetitbrötchen hervor und stellt alles auf dem kleinen verstellbaren Tisch zurecht: wenn der Liebling erwacht, so muß sie durchaus etwas essen – aber fürs erste möge sie nur schlafen, recht lange und süß schlafen!

Was ist es denn an der Zeit? Françoise zieht die Uhr – gleich Fünf! Noch zwei Stunden also, und sie sind dort – dort in Josephsthal, wo sie in fast zehn Jahren nicht mehr gewesen sind, wo Aufregung und Verwirrung herrschen werden, wo vielleicht der Tod schon seinen Einzug gehalten hat!

Fröstelnd überläuft es sie. Wahrhaftig, sie muß auch ein Glas Wein nehmen, sie fühlt sich ganz schwach. So! Das hat gestärkt! Wie gut, daß Madame Laurentius ihnen eine Flasche von dem alten, feurigen Madeira mitgegeben hat. Ja, Madame ist sehr, sehr achtsam, sie vergißt nichts von dem, was gut und nötig ist. Nun es der Französin so warm und belebend durch die Adern rinnt, kann sie schon eher die Dinge an sich herankommen lassen, und ganz schreckliche Dinge werden es sein, ohne allen Zweifel: Gerichtsverhandlungen, Zeugenverhöre, Untersuchungen! Ob man auch sie, Françoise Dupont, gerichtlich vernehmen wird? Aber sie ist ja in Frankfurt gewesen, als das Verbrechen geschah, sie kann nichts aussagen.

Ce pauvre monsieur Hofmann! Eigentlich, wenn Françoise sich die Sache recht überlegt, hat sie nie besondere Sympathie für Monsieur gehabt. Natürlich, es thut ihr unendlich leid, daß man ein Attentat auf ihn verübt hat, noch dazu eins, das einen tödlichen Ausgang befürchten läßt …. aber sonst!! – Hat wohl Monsieur jemals ein warmes, anerkennendes Wort für sie, für ihre dem Hofmannschen Hause seit mehr als siebzehn Jahren gewidmeten treuen Dienste gehabt? Es ist wahr, Monsieur hat nie gespart, er hat sie reich besoldet, sie hat einen hübschen Sparpfennig und hat auch Geld nach Hause schicken können an ihre Schwester in Asnières – aber ein freundliches Dankeswort hätte sie wohl verdient! Freilich, Monsieur hat ein kühles Herz, er ist sogar kühl geblieben gegenüber seinem einzigen Kinde – man sollte es nicht glauben, wenn man es nicht zahllose Male hätte mit ansehen müssen! Die Französin neigt sich vor und studiert das Gesicht des schlummernden Mädchens so eingehend, als sähe sie es heute zum erstenmal. Wie rein in den Linien ist es, wie wunderschön geschnitten Mund und Augen! Ein Zug von Hochmut liegt zwischen den dunklen, geradgezogenen Brauen – den hatte die Mutter auch – aber die Mutter verstand nicht so lieblich zu lächeln, wie Alix das kann. Françoise hat es wohl hundertmal gesehen, das zornige Wetterleuchten in den Augen, die finstere Stirn – und bald darauf dies allmählich sich hervorwagende Lächeln, ein wenig verlegen fast – weich und schüchtern – und dann wird das junge, herrische Gesicht ganz in Sonnenlicht getaucht. Nein, nein, sie ist goldig, und die Französin möchte sie schon nicht anders haben. Auch ist es hübsch, mit ihr auszugehen und zu beobachten, wie die Leute rasch den Kopf nach ihr drehen oder sie bewundernd anstarren …. Und nun erst die jungen Herren, die sie gern heiraten möchten! In England waren es drei, und ein Baronet war darunter – aber nein, mignonne hatte ihn trotz dessen nicht haben wollen. Sie würde doch wohl irgend einen deutschen Standesherrn nehmen!

Unaufhaltsam raste der Zug durch das Land, die Funken

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 488. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0488.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)