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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

fuhren an den niedergelassenen Fenstern hin, untermischt mit Schneeflocken, die es eilig hatten, den Weg zur Erde zu finden.

Sechs Uhr – und Alix schlief! – Halb Sieben – und sie schlief noch! Geräuschlos begann Françoise das Handgepäck aus den Netzen zu nehmen und zu ordnen. Jetzt nur noch zehn Minuten!

Sollte sie das schlafende Mädchen wecken? Jammerschade – sie erlebte all das Traurige, das vor ihr lag, früh genug, indessen ….

Da that die Lokomotive einen schrillen Pfiff, und die Schläferin zuckte empor und erwachte.

„Françoise …. ich glaube, ich war fest eingeschlafen! Wie lange – wie lange haben wir noch bis Josephsthal?“

„Keine fünf Minuten mehr, mignonne – es ist gleich sieben Uhr, ich habe schon alles zusammengesucht bis auf die Decke und das Kissen. Hier noch einen Schluck Wein – ich bitte!“

Alix wehrte ungeduldig Françoises Hand mit dem Glase ab. „Ich kann nicht! Wie soll ich jetzt – –“

„Doch, o doch, Sie müssen! Denken Sie, was alles vor Ihnen liegt! Madame Laurentius hat mir’s auf die Seele gebunden: Sie müssen haben einen Bissen zu essen und ein Glas Wein vor Ihrer Ankunft!“

Um allen weiteren pathetischen Beschwörungen ein Ziel zu setzen, stürzt Alix den Wein hinunter und ißt hastig ein paar Bissen. „Noch drei Minuten – jetzt nur noch zwei - -“

Langgezogenes gellendes Pfeifen, der Zug rollt langsam in die Halle – er steht. Das junge Mädchen rüttelt ungeduldig an dem verquollenen Fenster, endlich giebt es nach und saust herunter.

„Station Josephsthal!“ Die Thüren werden aufgerissen, eine nach der anderen. Nur wenige Leute steigen aus. Ein paar Laternen werden hin und her getragen, der feuchte Abendnebel schlägt um Menschen und Dinge einen nassen Schleier.

„Hier, Herr Justizrat!“ sagt der Stationsvorsteher und zeigt einem behäbigen älteren Herrn mit Brille und Regenschirm die Coupés erster Klasse.

„Wo denn? Ich sehe absolut nichts! Das Glas ist mir ganz beschlagen – ich kann –“

„Herr Justizrat Ueberweg –“ sagt Alix mit bedeckter Stimme und tritt dicht vor den Suchenden hin. Sie kennt ihn wenig, sie hat ihn vor zehn Jahren dann und wann einmal flüchtig in Josephsthal gesehen, aber sie weiß es ja durch ihren Vater, daß er dessen langjähriger Rechtsbeistand ist und daß die beiden Herren in eifrigem Verkehr stehen.

„Mein verehrtes gnädiges Fräulein, mein – mein liebes –“

„Lebt Papa noch?“

Noch lebt er!“ Das „noch“ wird schwer betont.

„Und ist sein Zustand –“

„Ganz unverändert, mein liebes, verehrtes junges Fräulein.“

„Leidet er?“

„Nein. Er ist ohne Bewußtsein. Aber für seine Umgebung –“

Der Justizrat und Alix haben beide leise gesprochen, beinahe flüsternd. Der Stationsvorsteher ist diskret von ihnen weggetreten; andere Leute sind nicht so zartfühlend. Die Mordaffaire in Josephsthal beschäftigt sämtliche Gemüter, widersprechende Gerüchte haben sich verbreitet: die Wunde sei absolut tödlich – nein, nicht tödlich – der Patient sei bei Besinnung, habe den Angreifer erkannt und angegeben – bewahre, er liege bewußtlos. Ueberweg war der einzige, den man allenfalls einen Freund des Herrn von Hofmann nennen konnte; er mußte gut unterrichtet sein, und es war interessant, zu hören, was er sagte.

Indessen, er sagte nichts weiter. Mit einem Blick auf die neugierig herumzögernden Menschen bot er Alix den Arm, während ein hinter ihm stehender Diener Françoise wegen des Gepäcks befragte. Das junge Mädchen nahm rasch den Schleier über ihr Gesicht und ließ sich von ihrem Begleiter fortziehen. Sie umschritten das Bahnhofsgebäude, und der Justizrat rief in das Dunkel hinein: „Markwart!“

„Herr Justizrat!“ kam eine Stimme zurück, und gleich darauf fuhr ein Schlitten, der an der kurzen Seite des Bahnhofes unter Deckung gestanden hatte, in raschem Trabe vor. Zwei helle Laternen brannten zu den Seiten des Kutschersitzes, den ein bärtiger Mann mit einer hohen Pelzmütze innehatte.

„Ihr gnädiges Fräulein, Markwart!“ sagte Justizrat Ueberweg, und der Mann zog höflich die Pelzkappe, während seine linke Faust die Züge! und die aufrechtgestellte Peitsche hielt.

„Wo ist James?“ fragte der Justizrat, während er der jungen Dame half, einzusteigen.

„Beim zweiten Schlitten, der das Gepäck bringen wird. Soll er vorfahren?“

„Gewiß!“

Markwart ließ einen kurzen Pfiff ertönen, und unmittelbar danach bog ein anderer Schlitten um die Ecke und hielt unweit des ersten.

„Können wir fahren?“ fragte der Justizrat.

„Wenn Françoise da ist – dort kommt sie schon.“

„Wünschen Sie noch eine Decke, Baroneß?“

„Nennen Sie mich nicht so! Sagen Sie Alix zu mir, ich bitte. Sie sind Papas einziger Freund – wollen Sie auch der meinige sein?“

Alix’ schmale Hand wurde ergriffen und mit einem beinahe schmerzhaften Druck festgehalten.

„Ich will treu zu Ihnen halten und für Sie thun, was in meinen Kräften steht!“ Ueberwegs Stimme klang unsicher, er schien sehr bewegt zu sein.

„Fahren wir jetzt!“ sagte das junge Mädchen und legte sich in ihre Ecke zurück.

Es hatte zu schneien aufgehört. Dennoch waren keine Sterne am Himmel sichtbar, und alles ringsumher war in ein fahles Dämmerlicht getaucht. In diesem ungewissen Licht unterschied Alix’ scharfes Auge gut genug die Dinge, die sie umgaben. Alles, Was sie sah, war ihr fremd.

Für einen unternehmungslustigen und reichen Mann sind zehn Jahre eine lange Zeit, sie bieten seiner Thätigkeit ein fruchtbares Feld. Als Alix Josephsthal verlassen hatte, war noch kein Bahnhof daselbst gewesen. Herr von Hofmann hatte es beim Ministerium durchgesetzt, daß die Bahn gebaut und der Bahnhof gerade hierher verlegt wurde, an eben diese Stelle, die der Knotenpunkt der ganzen Kolonie Josephsthal genannt werden konnte. Es bedeutete dies für die ganze Gegend, namentlich aber für ihn, eine wertvolle Errungenschaft.

Das junge Mädchen entsann sich noch genau der weithingedehnten, meist flachen Landschaft, durch die man damals bis zur nächstgelegenen kleinen Stadt fahren mußte – erst jenseit des Flusses wurde das Terrain hügelig und erhob sich allmählich sogar bis zu Bergen von malerischer Form, wenn auch nur mäßiger Höhe. Damals standen bloß einzelne verstreute Häuschen hier, die eigentliche Kolonie lag weiter westlich. Jetzt aber - - -

Alix richtete sich von neuem in ihrer Ecke empor und schlug den Schleier zurück. Es war ihr, als könnte sie ihren Augen nicht trauen: rechts eine ganze Kette von Häusern, samt und sonders in dem nämlichen nüchternen Stil erbaut und matt erleuchtet. Links ein paar größere, stattlichere Häuser, hinter ihnen, etwas erhöht gelegen, ein riesiger Bau mit regelmäßigen, langen Fensterreihen, die strahlend erhellt waren und rund um das ganze Gebäude goldige Riesenwürfel in den Schnee zeichneten. Im raschen Vorübergleiten gewahrte Alix viele abgesteckte Vierecke, halbfertige Fundamente und einige unbewohnte Häuser, wahrscheinlich noch nicht ganz vollendet.

„Herr Justizrat, was ist dies alles? Doch nicht - -“

„Das gehört alles zur Kolonie Josephsthal, mein gnädi - - liebe Alix! Das große Gebäude, das Sie links sahen, ist die Walzmühle, die Häuser in der Nähe werden vom Direktor, den Ingenieuren und Unterbeamten bewohnt. Es fehlt noch sehr an Arbeiterwohnungen, die Leute müssen sich fürs erste behelfen – Ihrem Herrn Vater ist der letzte, ganz außergewöhnlich früh einsetzende Herbst störend dazwischengetreten, es sollten noch viele Wohnungen fertiggestellt werden – nun hat einstweilen alles liegen bleiben müssen. Ich weiß aber wirklich nicht mehr genau, seit wie langer Zeit Sie nicht in Josephsthal waren.“

„Seit zehn Jahren.“

„O, – o! Welch große Augen werden Sie da machen, wenn Sie an den Strom kommen! Das ist wie ein ganzes kleines Königreich für sich. Man darf die Schneidemühle wohl die großartigste Schöpfung Ihres Herrn Vaters nennen! Wie ist mir denn: hatte Josephsthal vor zehn Jahren schon seine eigene Kirche?“

„Sie wurde eben begonnen, als ich fortkam.“

„Aber die Schule, das Gemeindehaus, die Apotheke, das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0490.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)