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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


„Bitte, wenden Sie sich ab – sehen Sie nicht fortwährend hin, es regt Sie zu sehr auf!“ sagte Doktor Petri sanft.

Sie hätte ihm gern gehorcht, aber es war, als habe sie alle Gewalt über sich verloren. Da nahm er ihr Gesicht behutsam in seine beiden Hände und wandte es zur Seite; darauf blieb er neben ihr stehen und wartete geduldig, bis sie die Kraft finden würde, zu ihm zu sprechen.

„Ist dieser Zustand – hat dieser Zustand – sich – nicht geändert, seitdem das – Unglück geschah?“ fragte sie endlich.

„Kaum wesentlich. Der Kranke ist, seitdem er hierher gebettet wurde, ohne Bewußtsein.“

„Können Sie das mit voller Bestimmtheit sagen?“

„Mit voller Bestimmtheit. Meine beiden Kollegen und ich sind ganz einig über den Fall, er liegt leider überaus einfach. Es ist bei der Behandlung nur ein Weg einzuschlagen, über den ich mich, wie Herr Justizrat Ueberweg Ihnen bezeugen kann, ebenfalls vollkommen mit meinen Herren Kollegen verständigt habe.“

„Es kann nichts – nichts zur Verbesserung dieses Zustandes geschehen?“

„Wir können die über den Schläfen eingedrungene Kugel nicht entfernen, ohne den Kranken auf der Stelle zu töten.“

Alix wollte weiter fragen, als ein tiefer Seufzer, der sich den Lippen des Vaters entrang, sie entsetzt auffahren ließ. Der Seufzer wiederholte sich, währenddessen die hingestreckte Gestalt ebenso ohne Bewegung verharrte wie zuvor.

Doktor Petri zog das junge Mädchen mit sanfter Gewalt nach der Thür hin. „Auch dieses krampfhafte Aufatmen geschieht ohne Bewußtsein,“ beantwortete er dabei ihren fragenden Blick. „Aber Sie dürfen nicht hier bleiben; es regt Sie zu sehr auf. Gehen Sie jetzt, ich bitte, gehen Sie!“

Er führte sie bis zur Thür und schob den Vorhang beiseite. Françoise stand mit entsetztem Gesicht dahinter und nahm Alix, die weiß bis in die Lippen hinein war, in Empfang.

(Fortsetzung folgt.)




Marie von Ebner-Eschenbach.

Eine Charakteristik von Moritz Necker.
(Mit dem Bilde S. 493.)

Unter dem frischen Eindruck der nun zu Ende gehenden Erzählung „Die arme Kleine“ werden die Leser der „Gartenlaube“ gewiß mit ganz besonderem Interesse Näheres über die Persönlichkeit der berühmten Verfasserin erfahren. Marie von Ebner-Eschenbach nimmt heute den von allen litterarischen Parteien einmütig zuerkannten ersten Rang unter den deutschen Dichterinnen ein. Mit ihren ernsten und heiteren Novellen und Romanen, den „Erzählungen“, den „Dorf- und Schloßgeschichten“, mit „Božena“, „Das Gemeindekind“, „Zwei Comtessen“, „Lotti die Uhrmacherin“ – um nur einige ihrer Hauptwerke zu nennen, die geistvollen „Aphorismen“ nicht zu vergessen – hat sie sich für alle Zeiten ihre Stellung in der deutschen Nationallitteratur gesichert. Ein reicher Quell der Schönheit, Weisheit und Erhebung sprudelt aus diesen Dichtungen, und sie behaupten ihren Stand neben unseren größten Meistern der erzählenden Kunst. Wetteifert sie mit diesen Männern in Bezug auf markige Kraft der Darstellung, so verleugnet sie anderseits doch nie das echt weibliche Empfinden, welches den wesentlichsten Grundzug ihrer Persönlichkeit ausmacht.

Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach wurde am 13. September 1830 im Schloß Zdislavic bei Zdounek in Mähren geboren. Ihr Vater war der reichbegüterte Graf Franz Dubsky auf Zdislavic und Zdounek; ihre Mutter eine sächsische Freifrau von Vockel, die aber schon im Wochenbett starb und demnach von der Dichterin nie gekannt wurde. Diese wurde erst von der dritten Gattin ihres Vaters erzogen, denn auch die zweite hatte er bald durch den Tod verloren. Die Erziehung der jungen Gräfin war natürlich nach dem Geschmack jener Jahre des noch immer patriarchalischen Vormärz. Man legte zumal in der Mädchenbildung mehr Gewicht auf die äußeren Fertigkeiten und Formen des Umgangs als auf litterarische oder gar wissenschaftliche Ausbildung. Eine französische Gouvernante war unbedingt notwendig; aber der Hauslehrer war vorerst für die Söhne, nur in zweiter Linie für die Töchter des kinderreichen Hauses da. Die kleine Comtesse durfte sich mehr in Feld und Park tummeln, als hinter Klavier und Schreibtisch sitzen. Doch möchte man diese Erziehung nicht ohne weiteres als nachteilig bezeichnen, denn sie hatte neben ihren Mängeln vor dem modernen System der Ueberbürdung mit Bücherweisheit den Vorzug, daß sie der jungen Seele volle Freiheit der Bewegung gestattete.

Der Sommer wurde auf dem Lande, der Winter in Wien verbracht, wo die gräfliche Familie ihr eigenes Haus besaß, das noch jetzt (Am Hof 13) vom Haupt der Familie, dem jüngeren Bruder der Dichterin Graf Adolf Dubsky, dem hochangesehenen liberalen Mitglied des österreichischen Hauses der Abgeordneten, bewohnt wird. Die jährlichen Umzüge von der Stadt aufs Land und wieder zurück gestalteten sich für die Kinder der Familie zu höchst interessanten Fahrten, an welche die Dichterin noch im Alter gern zurückdenkt. Man brauchte damals, wo noch keine Eisenbahnen waren, mehrere Tage, um die Strecke von Zdounek und Brünn nach Wien zurückzulegen, die jetzt der Eilzug in wenigen Stunden durchfliegt. Bei Nacht machte man unterwegs Station. Das war voller Romantik und reich an Abwechslung, an der sich die rege Phantasie der jungen Comtesse ergötzte. Das Abschiednehmen und Wiederbegrüßen der Einwohner und des Gesindes hüben und drüben war ebenso anregend für das junge Gemüt, das frühzeitig mit klugen Augen um sich schaute, wie die Begrüßung der geliebten Plätzchen und Gärten in Schloß und Hof. Unsere Dichterin soll auch ein heiteres, zu satirischem Witz geneigtes Mädchen gewesen sein. Heiterkeit und kritischen Sinn hat sie sich bis in ihre alten Tage bewahrt.

In Wien waren es vor allem die Aufführungen des Burgtheaters, welche sie anzogen. Den ersten starken poetischen Eindruck erhielt sie von der bilderreichen poetischen Erzählung in Versen „Der letzte Ritter“ von Anastasius Grün. Diese lernte Comtesse Marie halb auswendig. Auch Schiller war ein Lieblingsdichter ihrer Jugend; viele Jahre später (1869) huldigte sie ihm in dem kleinen Gelegenheitsstück „Doktor Ritter“. Aber die Vorstellungen im Burgtheater begeisterten sie zu allermeist. In den Erinnerungen aus ihrer Kinderzeit, die sie zu Karl Emil Franzos’ Sammelband „Geschichte des Erstlingswerkes“ beisteuerte, erzählt sie hierüber: „Im Winter wurden wir zu unserem nicht geringen Stolze jeden zweiten Tag in das Burgtheater mitgenommen. Eine neue Welt ging mir auf, und doch war mir, als befände ich mich in meinem eigentlichen Element. Das Burgtheater war damals eine Bildungsschule ersten Ranges, die Erfindung der ‚Comtessenstücke‘“ – so nennt man in Wien solche Stücke, die in keiner Beziehung verfänglich sind und die daher von jungen Mädchen gesehen werden dürfen – „noch nicht gemacht. Noch galt das Wort Julie Rettichs: ‚Das Klassische schadet nicht.‘ Nein, wahrlich, es schadet nicht, es läutert, es erbaut und begeistert! An manchem solchen Weiheabend saß ich auf dem Bänkchen im Hintergrunde unserer Loge, der Kopf brannte mir, meine Wangen glühten, ein kalter Schauer nach dem andern lief mir über den Rücken, und ich dachte: über kurz oder lang werden deine Stücke hier aufgeführt und deine Worte werden von der Bühne wie Funken herunterprasseln. Das waren Stunden!“ ….

Mit dem Ideal, ein großer dramatischer Dichter zu werden, wuchs also Comtesse Dubsky heran. Sie war unermüdlich thätig und füllte Bände mit ihren Versen, so daß sich schließlich ihre gute Mutter bei einer Autorität im Fache der Dichtkunst Rats erholen mußte, um ins klare über den Wert der dichterischen Neigungen ihrer Tochter zu kommen. Diese Autorität war Franz Grillparzer, der damals – es war im Jahre 1847 –, als größter Dichter Oesterreichs allgemein verehrt, in Wien lebte und zur

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0492.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2021)