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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Brieflein der „Comtesse Muschi“, die in den ersten achtziger Jahren erschienen – da ward die Dichterin mit Bitten um neue Erzählungen bald so überhäuft, daß sie noch viele Male fleißiger hätte sein müssen, als sie schon war, um allen Genüge zu leisten! Der Erfolg stellte sich zwar spät ein, aber doch noch zu einer Zeit, wo Frau von Ebner in der vollen Kraft ihrer Jahre stand und sich ihrer Kunst ohne Beschwerden widmen konnte. Und sie that es mit voller Hingabe und Begeisterung, vermied nach Möglichkeit alles, was sie in ihrem Lebensberufe stören könnte.

In den letzten zwei Jahrzehnten lebte sie im Winter in Wien, im Sommer zuerst in St. Gilgen, dann oft bis zur Weihnachtszeit in Zdislavic. So recht fleißig konnte sie nur auf dem Lande sein. Da blieb sie – gewöhnlich in Gesellschaft ihrer Freundin, der geistvollen Frau Ida von Fleischl, der Mutter eines angesehenen österreichischen Physiologen, Ernst von Fleischl – ohne Störung bei ihrem Schaffen. In den schönen schattigen Laubgängen des für Fremde abgeschlossenen Parks zu Zdislavic kann sie sich ihren Phantasien und Gedanken überlassen, gewöhnlich in den Morgen- und Vormittagsstunden. Die Nachmittage sind der Zerstreuung gewidmet. In Wien fühlt sich Frau von Ebner von gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sie doch bei ihrer großen Menschenliebe nicht leicht abzulehnen vermag, in der zur Arbeit nötigen Sammlung vielfach gestört. So lange ihre Freundin, die Dichterin Betty Paoli lebte (die vor wenigen Jahren erst im hohen Alter von achtzig Jahren starb), verbrachte Frau von Ebner die Nachmittage der ungeraden Monatstage bei ihr. In der Vorrede zu den Gedichten aus dem Nachlasse Betty Paolis hat sie diese Nachmittage sehr anmutig geschildert. Es wurde zu dritt – Frau Ida, Betty und die Baronin – scheinbar Karten gespielt; in Wahrheit aber brachten die Gespräche jede Partie zum Stillstand: sie waren interessanter.

Bei der Arbeit hat wohl selten jemand unsere Dichterin gesehen, denn vormittags, wo sie sich ihr widmet, ist sie für niemand zu sprechen. In ihrem Schreibzimmer in Wien, dessen Abbildung wir unseren Lesern bringen, sieht es daher immer „aufgeräumt“ aus. Der Schreibtisch unterscheidet sich nicht besonders von dem jeder anderen Dame aus ihren Kreisen; er entbehrt vollständig jenes malerischen Reizes der Unordnung, den Dichterschreibtische aufzuweisen pflegen. Im ganzen Zimmer deuten nur die schönen Bücherschränke auf beiden Längsseiten, in denen die Meisterwerke der Weltlitteratur in schönen Einbänden hinter blitzblanken Scheiben nebeneinander stehen, auf die Neigungen und die Beschäftigung der Bewohnerin. Ein Manuskript der Dichterin ist mir hier nie zu Gesicht gekommen. Aber man weilt nur zu gern in diesem mit edlem Geschmacke eingerichteten Raume, denn an allen Wänden und in jedem Winkel stehen, liegen oder hängen Gegenstände, an die sich irgend eine persönliche Erinnerung der Dichterin knüpft: die Gemälde oberhalb der Bücherschränke sind ältere Familienporträts; da liegt eine gestickte Mappe, dort steht ein schöner Leuchter, da ruht ein Werk in schönem Einband mit der Widmung des Verfassers. Es waltet ein wahres Behagen in diesem Zimmer, das noch tiefe Fensternischen hat, weil das Haus alt ist, indes in den neuen Wiener Häusern die Mauern so dünn als nur möglich gebaut werden.

Einer ganz besonderen Merkwürdigkeit der Ebnerschen Wohnung wird man gewahr, wenn man sich eine kleine halbe Stunde aufhält. Da hört man plötzlich von verschiedenen Seiten her das lieblichste Glockenschlagen. Die Dichterin ist nämlich, wie jeder weiß, der ihre Erzählung „Lotti, die Uhrmacherin“ kennt, eine große Freundin der Uhrmacherkunst. Sie hat sie gründlich gelernt und im Laufe der Jahre eine Uhrensammlung mit vielen Seltenheiten und Merkwürdigkeiten Stück für Stück erworben. Diese Sammlung ist in einem kleinen Kasten, der in den Winkel zweier Wände hineingebaut ist, in ihrem Arbeitszimmer sichtbar. Hat Frau von Ebner einmal Muße und Stimmung, so nimmt sie gern ihre Kostbarkeiten heraus und erklärt dem Gast ihre Wunder der Uhrmacherkunst. In jenem Kasten sind die Uhren still, nicht aufgezogen, aber in der ganzen Wohnung, die aus vier Zimmern außer den Nebenräumen besteht – mit etwas düsterem Lichte, denn die Fenster gehen in das enge „Rabengäßchen“, einen der ältesten Teile der Stadt Wien –, sind auf den Kaminen, vor den Spiegeln, auf Etageren Uhren aufgestellt, jede ein Wunderwerk in ihrer Art, und diese schlagen und läuten zu allen Viertelstunden, vor- oder hintereinander, wie es just kommt, denn auch unsere Dichterin hat ebensowenig wie Karl der Fünfte alle Uhren zu genau gleichem Gange zwingen können …

Und da sitzt man denn in der Schummerstunde, die Marie Ebner ebenso liebt wie Theodor Storm es that, um 4 Uhr nachmittags, wo sie zu empfangen pflegt, im dunklen Salon vor ihr und freut sich des Glückes, einmal wieder mit ihr plaudern zu dürfen. Sie versteht es gut, zu plaudern, und hört sehr gern zu, wenn man ihr erzählt. Dabei ist sie von einer Einfachheit, Natürlichkeit und Wärme, daß jede Befangenheit, auch vom Neuling, in ihrem Kreise bald schwindet. Diese gewöhnlich in schwarzer Seide gekleidete, eher kleine als große, überaus zarte Frauengestalt mit dem feinen ausdrucksvollen Kopfe zwingt uns durch ihre eigene Art, einfach, wahrhaft, natürlich zu sein, wenn wir mit ihr sprechen. Wohl ist auch sie für den Ausdruck der Begeisterung für ihre Werke empfänglich, und sie freut sich unbefangen und offen, wenn man sie lobt; aber sie hört ebenso rasch und fein heraus, wenn die Schmeicheleien nichts mehr als Artigkeiten sind, und versteht es, dem Gespräch rasch eine andere Wendung zu geben. Denn Marie Ebner ist von einer tiefen, nur allzu selbstkritischen Bescheidenheit; sie beschämt einen mitunter mit ihrer Demut. Fühlt sie sich im Urteil über andere zu einem Tadel genötigt, so sagt sie das Herbe am liebsten in scherzender Einkleidung. Ueberhaupt liebt sie die heiteren Menschen, einen guten, frischen Witz viel mehr als die Sauertöpfe. Was sie im „Gemeindekind“ dem Schulmeister Habrecht in den Mund legt: „Traurigkeit ist Stille, ist Tod; Heiterkeit ist Regsamkeit, Bewegung, Leben“ – das ist ihr so recht aus der eigenen Seele geflossen. Thätigkeit – unermüdliche, unverdrossene Thätigkeit: das ist die erste und letzte Forderung dieser großen sittlichen Persönlichkeit an sich selbst und an die Menschheit. Thätigkeit auch im engen Kreise erscheint ihr wertvoller als alle noch so glänzend scheinende Existenz, die sich nur mit Worten begnügt oder in der Beschaulichkeit aufgeht. Die Thätigkeit im Dienste des Wohles der anderen erscheint ihr sehr viel wichtiger als alle theoretischen Probleme. Das Evangelium geläuterter Menschlichkeit, das Goethes Iphigenia verkündet, beseelt nicht nur ihre Werke, es hat ihre ganze Lebensarbeit geadelt.




Aberglaube und Verbrechen.
Von Dr. Hanns Groß.

Ich war ein ganz junger österreichischer Justizbeamter, als mir der Untersuchungsrichter, dem ich zur Ausbildung überantwortet war, einen „Fall“ zur ersten selbständigen Vernehmung der Zeugen übergab. In keinem großen Prozesse wegen Raubmords, Hochverrats oder sonst was Wichtigen habe ich später die Vorbereitungen zur Vernehmung so umständlich und genau gepflogen: zehnmal änderte ich die Reihenfolge, wie ich die Leute verhören wollte, alle Fragen waren vorbereitet, alle Zwischenfälle überdacht, kurz alles war in ein sorgfältig ausgehecktes System gebracht, obwohl es sich nur um einen ganz unbedeutenden Diebstahl handelte. Das Wichtigste schien mir die Reihenfolge der Zeugen: erst wollte ich die Dame vernehmen, in deren Haus der Diebstahl vorgefallen war, um über alle in Betracht kommenden Leute unterrichtet zu werden, dann den Beschädigten, hierauf dessen Zimmerkameraden u. s. w. Es war ein herrlicher Plan; aber als der Tag der Vernehmung kam, erschien die bewußte Dame nicht, und ich mußte meinen Plan eiligst aufgeben und die Sache anders machen, mehr schlecht als recht.

Ich hatte einen Mißerfolg, und als am nächsten Tage die so schwer Vermißte zur Thür hereinrauschte, empfing ich sie recht unartig: allein ein erstickender Redeschwall ergoß sich über mich, und endlich konnte ich in fast weinerlichem Tone nur noch fragen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0495.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2022)