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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

und zu abergläubischen Zwecken verwendet ward; so 1874 in Strasburg in Westpreußen, 1862 in London, 1873 in Christburg (Westpreußen), 1870 in Dirschau und 1866 in Schönsee bei Thorn; jedesmal handelte es sich um eine alte Frau, die im Verdachte stand, jemand behext zu haben, wofür sie unbarmherzig geschlagen wurde.

Merkwürdig zählebig ist auch der Glaube an den Wechselbalg (Kielkropf). So nennt man in manchen Gegenden mißgestaltete, kränkliche oder blödsinnige Kinder. Sie werden nach abergläubischen Ueberlieferungen von Zwergen, Unholden, Schratteln[1], auch wohl von Nixen, Hexen oder dem Teufel selber gebracht, wogegen sich der betreffende Uebelthäter ein wohlgestaltetes Menschenkind mitnimmt. Das Böse an der Sache liegt darin, daß man ferner glaubt, man müsse den Wechselbalg so lange schlagen oder sonst quälen, bis der Ueberbringer desselben ihn wieder holt und dafür das geraubte Kind zurückbringt. Wuttke, Schwartz, Mannhardt, Löwenstimm und zahlreiche andere Schriftsteller erzählen genug derartige Fälle, und die russischen Gesetzgeber fanden es notwendig, im Art. 1469 des russischen Strafgesetzbuches das Töten mißgestalteter Kinder ausdrücklich zu verbieten.

Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, mich zu überzeugen, wie lebendig noch der Glaube an Wechselbälge im Volke ist. Die Sache passierte einem Kollegen am gleichen Amtsorte, an dem ich mich befand. Ein ganz kleines Kind hatte sich an den Wiegenbändern erhängt, weshalb die Erhebungen wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet wurden. Ich weiß nicht, ob man dies anderwärts auch so macht, aber bei unserer Landbevölkerung pflegen die Leute, wenn sie zur Arbeit gehen und ihre Kinder unbeaufsichtigt zu Hause lassen müssen, die Kleinen in der Wiege „einzuschnüren“. Zu diesem Zweck tragen die Seitenwände der Wiege jederseits mehrere Holzknöpfe, über welche eine Schnur im Zickzack geschlungen wird, so daß das Kind hierdurch in der Wiege niedergehalten wird; es kann sich somit nicht aufrichten und nicht hinausstürzen.

Im gegebenen Falle hatte das Kind aber doch die Schnur gelockert und über einen Knopf gehoben, es stürzte aus der Wiege, blieb mit dem Kopf in dem Bande hängen und erstickte. Als nun die Mutter des Kindes wegen ihrer Sorglosigkeit zur Rechenschaft gezogen wurde, erklärte sie ganz ruhig, sie sei vollkommen schuldlos, denn „das hat der Schrattl gethan“. Sie erklärte dann, der Hergang sei offenbar so gewesen, daß der Schrattel das Kind habe rauben und dafür einen Wechselbalg habe einlegen wollen. Hierbei habe er mit dem Schnürband ungeschickt hantiert, das Kind sei mit dem Halse hängen geblieben, der Schrattel habe es nicht loslösen können und sei erschreckt geflohen. So mußte sich, freilich das Kind erhängen! Die Erklärung wurde von mehreren vernommenen Nachbarinnen als sicher richtig bestätigt.

Kurze Zeit darauf konnte ich wahrnehmen, daß der Glaube an den Schrattel in unserer Gebirgsbevölkerung noch sehr verbreitet ist. Ich besaß einen winzigen, zottigen und äußerst lebhaften Hund, der leider den unausrottbaren Hang bezeugte, seine Mitgeschöpfe zu ärgern, zu quälen und ihnen allen erdenklichen Tort anzuthun, so daß er infolge dieser üblen Eigenschaften „Schrattl“ genannt wurde. In Begleitung dieses Geschöpfes ging ich einmal eine längere Wegstrecke mit einem alten, sehr intelligenten Bauern, der mir im Verlaufe des Gespräches allen Ernstes riet, dem Tiere einen anderen Namen zu geben, denn „so oft den Schrattl zu rufen, heiße den Teufel an die Wand malen“.

Wohl hat M. Busch recht, wenn er in seinem Werke „Deutscher Volksglauben“ sagt: „Der deutsche Aberglaube ist das nachgedunkelte Bild des deutschen Heidentums – es liegt ein schönes Stück Poesie darin“, aber wir Kriminalisten sind diesem „nachgedunkelten Bilde“ nicht grün! Viel weniger gefährlich als die vorher erwähnten abergläubischen Ueberlieferungen, gleichwohl aber bedenklich sind alle Gespenster- und Spukgeschichten. Allerdings mögen die Gründe, warum es irgendwo „umgeht“, mitunter ganz zufällig und harmlos sein, in der Regel hat es aber doch einen ganz bestimmten Grund, warum jemand den Glauben entstehen ließ, es sei da und dort nicht recht geheuer: er will einfach verhindern, daß er bei irgend einem unlauteren Treiben gestört oder betreten wird, und dies ist mit dem Ausstreuen einer recht gruseligen Spukgeschichte am leichtesten erreicht. Freilich geht es da oft so zu wie mit der frischgestrichenen Gartenbank im Schloßpark zu Schönbrunn, zu der man einen Wachposten gestellt hatte, damit sich niemand darauf setze: der Grund der Aufstellung des Postens wurde vergessen, die Bank existierte überhaupt nicht mehr, und nach 60 Jahren stand der Posten immer noch dort und wurde alle zwei Stunden abgelöst. Ebenso hat auch vielfach derjenige, der den Spuk ins Leben rief, diesen vielleicht längst nicht mehr nötig, er ist vielleicht schon lange tot, aber der Glaube an das Gespenst ist nicht gestorben. – Wenn nun die Magd einen bestimmten Teil des Gartens von Geistern belebt sein läßt, um dort ungestört ihre Stelldicheins abhalten zu können, so ist der Vorgang genau derselbe, wie wenn Falschmünzer eine Ruine in Verruf bringen, um dort ihr verbrecherisches Treiben nicht entdecken zu lassen; ebenso bringen die Wilddiebe entsetzliche Spukgeschichten unter die Leute, um gewisse Reviere bei Nacht für sich zu haben, denn auch der beherzteste Jäger ist rechtschaffen abergläubisch, und der Fischdieb läßt Wassergeister und Nixen treiben, damit ihm niemand über seine Nachtangeln und Reusen gehe. So macht es alles lichtscheue Gesindel, und wenn wir unsere Gendarmen beauftragen, gerade dort ein wachsames Auge zu halten, wo es „umgeht“, so gelingt mancher überraschende Fang.

Ich habe durch meine ganze Jugend die Ferien auf einem Landbesitze meines Großvaters in schöner, einsamer Gegend zugebracht. Dort steht ein Berg, halb mit Feldern und Wiesen, halb mit Wald bedeckt, wo damals ein ganz besonders unheimliches Gespenst sein Unwesen trieb: ein borstiges Schwein mit einem Menschenkopf, in dessen Stirne eine Flintenkugel stak. Die Leute hatten heillosen Respekt vor dieser Gegend, niemand wollte zur Nachtzeit dort gehen, und wenn ich, selten genug, meinen Weg dort nehmen mußte, so ging es, selbst als ich schon ein fast erwachsener Bursche war, nie ohne Herzklopfen ab; man konnte doch nicht recht wissen! Erst nach Jahren wurde entdeckt, daß der einzige Bauer, der in jener unheimlichen Gegend wohnte, durch die längste Zeit die unverschämtesten Felddiebstähle begangen hatte. Er war vermögend geworden, da er durch Jahrzehnte die fremden Felder fast vollständig abgeräumt hatte; die Leute merkten wohl, wie sie bestohlen wurden, aber niemand wagte es, dort zur Nachtzeit aufzupassen, und so störte niemand den Dieb, der zweifellos das famose Gespenst selbst erfunden und die Kunde davon verbreitet hatte. Man wird nicht fehl gehen, wenn man den größten Teil der Gespenster als absichtlich erfundene Schutzgeister für verbrecherisches Treiben ansieht und danach handelt.

Ist einmal eine Spukgeschichte entstanden, so hat sie regelmäßig langes Leben, und wenn sie auch jenem Zweck, dem zuliebe sie geschaffen wurde, nicht mehr dient, so kann sie in anderer Weise Unheil stiften. Als ich noch in dem kleinen Städtchen, welches früher erwähnt wurde, diente, kam einmal, während ich bei Tisch saß, ein Gendarm hereingestürzt: „Ein Ermordeter wurde gefunden!“ meldete er. Mehr wußte er nicht, da ihm, der eben von einem Dienstgange heimging, ein anderer Gendarm begegnet war, der vom Fundorte in der Stadt (ich wohnte außerhalb derselben) gekommen war; dieser hatte den Heimkehrenden zu mir gesendet und war selbst an den grausigen Fundort zurückgeeilt, um ihn zu bewachen. Selbstverständlich unterbrach ich die Mahlzeit sofort und rannte mit dem Gendarmen davon. Es ergab sich nun eine eigenartige Geschichte.

An der Grenze des Städtchens lagen das Brauhaus und daneben das Wohnhaus und der Garten des Brauers. Diesem war sein großer Lieblingshund verendet, den er im Garten verscharren ließ, und als die Grube ausgehoben wurde, fand man einen „Ermordeten“, d. h. das Schädeldach eines Menschen, Wirbelknochen und sonstiges Gebein. Mir wurde bald die Aufklärung zu Teil, als der Gerichtsarzt erschien und die Knochen sorgfältig untersuchte. „Den Thäter erwischt ihr jedenfalls nicht mehr,“ war sein Gutachten, „denn dieser arme

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0499.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2022)
  1. Schratt, Schrattel, Schraß, Schrettel, Schräzel (bei Goethe in „Wahrheit und Dichtung“: Räzel) ist ein rauher, zottiger kleiner Waldgeist, der dem Menschen mitunter wohl will, meistens aber ihm Unbill und Schabernack, oft auch schweres Unheil zufügt.