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Im Walde.
Nach dem Gemälde von W. Bröker.


Krawatte zu vertauschen. Das Schlingen des Knotens machte ihm Mühe, denn bis jetzt hatte Anni dies fast immer besorgt mit den flinken, behenden Fingern.

„Jetzt sind sie nun schon in Hamburg, der Zug kommt fünf Uhr fünfunddreißig Minuten an!“

Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er rief durch die Thür: „Du, Mutting, ob Anni wohl daran denkt, daß du die neue Boa in die Reisetasche gelegt hast? Das Kind wird sich sicher erkälten.“

„Ich habe es ihr noch einmal gesagt vor der Abreise.“

Frau Christine stand noch immer auf der Schwelle und blickte die Straße entlang bis zur nächsten Ecke, von wo aus Anni zum letztenmal mit dem Taschentuch gewinkt und der junge Ehemann den hellgrauen Reisehut geschwenkt hatte. Wie konnte dieser Mensch nur so vergnügt aussehen!

„Ja, diese Männer!“ seufzte Frau Bünau und machte die Thür zu. „Er wird natürlich nicht daran denken, wie leicht sich Anni einen Schnupfen holt!“

Das Treppensteigen wurde der alten Dame heute recht sauer. Es schien ihr, als sei sie noch nie so mühsam bis zum ersten Stock in ihr Schlafzimmer hinauf gelangt. So, nun war sie wieder ganz allein! Vor zwei Jahren heiratete die Aelteste, Frida! Das ging noch, obgleich es schwer genug zu verwinden war; Anni blieb ja zurück im Elternhause – jetzt war die auch fort. Was für einen Sinn hatte denn nun noch das ganze weitere Leben? Erst plagt man sich durch Impfpocken, Keuchhusten, Masern und Scharlach mit den Kindern durch, bis sie groß sind, und nachher kommt ein beliebiger Mensch und geht mit ihnen auf und davon, als ob das gar nichts wäre, noch dazu gleich nach Wien, so daß man eine ganze große Reise braucht zu einem Besuche. Es ist eine undankbare Welt, das ist gewiß!

Lange stand sie in der Kammer, in der bisher Anni geschlafen hatte. Nachdenklich schaute sie das Bett an mit den hübschen roten Rosen auf der Decke, aus dem der Morgengruß der Tochter ihr durch die offene Thür so oft in der Frühe entgegengeklungen war. Das Bett sollte morgen fort – es war ja zu traurig! Vorderhand setzte sich die Mutter auf den Rand und weinte leise vor sich hin. „Anni! kleine, liebe, treue Anni!“

Unten wanderte Herr Bünau durch die Zimmer; er setzte die halb ausgetrunkenen Flaschen auf dem Büffett zusammen und half dem Lohndiener und dem Dienstmädchen die Einlegebretter aus der Eßtafel nehmen.

Bis jetzt hatten sie mit Rücksicht auf Annis Freundinnen für den täglichen Gebrauch immer eines darin liegen lassen. Das war nun nicht mehr nötig, denn für zwei Personen schien ihm der Tisch ohne Einlage groß genug.

Der alte Herr seufzte leise und schob aus Leibeskräften, bis die Tischhälften, die seit zwanzig Jahren sich nicht gefunden hatten, endlich wieder mit Fugen und Zapfen sich zusammenschlossen.

Nachher stand der Alte allein im Zimmer, sah den Tisch an und nickte mit dem grauen Kopf. Es schlug gerade sechs Uhr. Er war nahe daran, laut „Anni“ zu rufen, denn um diese Zeit pflegte er mit ihr im Stadtpark spazieren zu gehen.

Was sollte er nur anfangen? Ratlos schlich er in sein Zimmer; dort sah es häßlich und unordentlich aus. Nach dem Diner hatten hier die Herren geraucht; auf dem Teppich sah man Spuren von Asche, und übelriechende Cigarrenreste lagen auf den Rändern der Untertassen; hier und da stand ein Liqueurglas, die Stühle waren durcheinander geschoben, und doch – hier war sie zu ihm gekommen, war ihm weinend um den Hals gefallen, als er sie gefragt, ob sie Herrn Doktor Hellwig lieb hätte; hier hatte sie vor zwei Stunden an seiner Brust geschluchzt und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0501.jpg&oldid=- (Version vom 22.5.2022)