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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Mutter Christine bekam wieder Herzklopfen; sie nahm die Brille dreimal von der Nase und setzte sie zweimal wieder auf, um dann hinaus und in den oberen Stock zu gehen. Dort war ernste Beratung, wie man die große Bettstelle durch die kleine Bodenthür bringen sollte.

„Wäre es nicht einfacher, Fritz, man stellte Annis Bett in deine Kammer und das deinige in mein Schlafzimmer? Dann machten wir aus deiner Stube ein Fremdenzimmer, und Anni oder Frida könnten in ihren alten Betten schlafen, wenn sie uns einmal besuchen.“

Der Dienstmann stand daneben, und Vater Bünau mußte sich deswegen zusammennehmen.

„Gut, wie du willst,“ sagte er daher nur; aber als die Bettstelle und der Dienstmann verschwanden, drehte sich der alte Herr kurz um und gab seiner Frau einen Kuß.

Am Nachmittag nahmen sie einen Wagen und ließen sich im Walde spazieren fahren.

Es war derselbe Wagen, in welchem Anni gestern fortgefahren war, ein Wagen mit rot und schwarzen Rädern und blauen Plüschpolstern. Auch derselbe Kutscher saß auf dem Bock; aber es war fraglich, ob die alten Herrschaften, die heute Hand in Hand auf dem Rücksitz saßen, nicht ebenso vergnügt waren in ihrem Herbstglück wie das junge Paar gestern mit dem Maienglück im Herzen.

Ja, es war ein schöner Tag, und abends langte mit der letzten Post eine Karte von Anni an mit tausend, tausend glückstrahlenden Grüßen. Voll Zuversicht schrieb die Kleine, die Eltern würden, nun sie wieder allein wären, sich das Leben nicht weniger behaglich zu machen wissen als im Beisein der Haustochter. Die beiden Alten schmunzelten und sahen sich an.

Ein Jahr war beinahe vergangen, und der Herr Doktor Hellwig hatte einen langen Brief geschrieben aus Wien, in welchem er die Mutter aufforderte, dorthin zu kommen, weil Anni es so sehr wünsche.

„Selbstverständlich gehst du hin,“ sagte der Vater und verließ das Zimmer, um das Kursbuch zu holen.

„Gieb dir keine Mühe, Fritz!“ meinte seine Frau ganz ruhig, als er damit zurückkam. „Die Reise ist mir zu weit, um sie allein zu machen. Vielleicht fahren wir beide nächsten Sommer hin, wenn du keinen Rheumatismus hast!“

„Ach, um meinetwillen,“ wehrte er ab.

„Willst du mich gern los sein, Fritz?“

Noch an demselben Abend ging ein lustiger Brief ab nach Wien, den Vater und Mutter zusammen geschrieben hatten, und über den der Schwiegersohn herzlich lachte, wenngleich Anni etwas enttäuscht war.

„Ich sehe gar nicht ein,“ schmollte sie, „weshalb solch alte Leute sich nicht auf ein paar Wochen trennen wollen.“

Da nahm ihr Mann sie beim Kopf und sah ihr ernst in die Augen.

„Anni, ich wollte, wir beide, du und ich, fänden in dreißig Jahren es ebenso schwer, uns zu trennen, wie die Eltern!“


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Des Paschas Billardbein.

Erinnerung aus dem Leben eines Ingenieurs.
Von M. Eyth.


Ein unerklärlicher Kindertraum hat mich als Jungen jahrelang mit heimlicher Sehnsucht erfüllt. Ich sprach mit niemand darüber, wie man nicht über Dinge spricht, die unser Innerstes bewegen. Doch ganz ohne Aeußerung blieb dieses Gebilde kindischen Traumlebens nicht. Meine Schulhefte und vor allem eine Schulausgabe von Ciceros Reden gegen Catilina, die einen breiten weißen Rand hatte, wimmelten von Pyramiden. Die Herren Professoren, außer dem alten Zeichenlehrer, den niemand beachtete, schüttelten die Köpfe. Denn man hielt sie für Dreiecke und sah darin einen unpassenden Hang zur Geometrie und zu anderen unklassischen Ällotria. Daneben fand sich wohl manchmal auch ein kleiner, mißgestalteter Hund, für den ich rückhaltlos ausgescholten wurde. Sogar der Zeichenlehrer mußte hier den Kopf schütteln. Ich schwieg still, im Gefühl erlittenen Unrechts. Es war gar kein Hund. Es war die Sphinx, das Rätsel alles Lebens, am Fuß der Grabdenkmale der ältesten Könige der Welt. Welche Erbärmlichkeiten waren dagegen die Republik Rom und die ganze römische Plebs samt dem langen Cicero! Das Ziel meiner kindlichen Sehnsucht war Aegypten.

Mein Traumland aber mit seinen ernsten geheimnisvollen Göttern, die keine unübersetzbaren Dummheiten machten wie Zeus und Aphrodite und Hermes, mit seinen tausendjährigen Menschen, die mit offenen Augen in ihren Felsengräbern lagen, als ob sie morgen aufstehen und ihre braunen, steifen Arme strecken wollten, mit seinem heiligen Strom und dem stillen Mörissee abseits in der Wüste, am Ufer Flamingos und Pelikane und ein schlummerndes Krokodil: das alles schien so unsäglich fern, unerreichbarer als der Himmel! Und nun hatte ich es doch erreicht. Völlig unerwartet, fast plötzlich. Gestern noch, schien es mir, war ich im Schnee des Brenners stecken geblieben; heute brannte die Sonne Afrikas auf meinen Schädel. War es zu verwundern, daß es mir seit sechs Wochen manchmal zu Mute war, als sei ich hinter dem Cicero eingeschlafen und träumte noch immer meinen alten Kindertraum; besonders morgens, kurz vor dem eigentlichen Erwachen, wenn die Mosquitos satt waren und ringsum Friede herrschte, im stillen Schimmer des erwachenden Morgens.

Vollends heute stand ich thatsächlich vor dem allzufrühen, unvermeidlichen Erwachen. Es war mein letzter Morgenritt von Kairo nach Schubra. Wir dachten wenigstens so, mein Esel, ich und selbst der kleine braune Eselsjunge Ali-Machmud, mit dem ich mich seit vier Wochen notdürftig zu verständigen gelernt hatte. Eine große Wehmut lag über uns und dem milden ägyptischen Frühlingsmorgen, der täglich heißer und mir trotzdem täglich lieber geworden war.

Mein Esel, welcher mit dem feinen Sinn orientalischer Höflichkeit je nach der Nationalität seines Reiters abwechslungsweise den Namen Radetzky, Palmerston und Napoleon führte, betrauerte den prächtigen ägyptischen Klee, in dem er tagsüber, während ich meiner Arbeit nachging, unbelästigt von verkehrten Eigentumsbegriffen, auf den mit Dampfkraft bewässerten Wiesen von Schubra botanisieren durfte. Ali-Machmud beweinte einen Herrn, den er seit einem Monat ohne Schwierigkeit täglich um fünf Piaster prellen konnte, und ich empfand zum voraus eine Art Heimweh nach dem träumerischen Nilbild, von dem ich noch so wenig gesehen hatte und das ich jetzt schon, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, verlassen sollte.

Denn ich befand mich nur auf der Durchfahrt in Aegypten. Mein Reiseziel war eine Indigoplantage am Brahmaputra in Assam, wohin ich zwei Dampfpflüge bringen sollte, die vorläufig noch zwischen der Kapstadt und Kalkutta auf dem Indischen Ocean schwammen. Mein Koffer barg, gestempelt und gesiegelt, einen zweijährigen Vertrag mit einer indisch-englischen Jndigogesellschaft, neben einer blechernen Chininkapsel, groß genug, ein halbes Bataillon der britischen Armee den giftigsten Sumpffiebern zu entreißen. In dem Vertrag verpflichtete sich der Unterzeichnete, ohne Verzug und mit möglichster Beschleunigung bei der Firma Prescott & Co. in Kalkutta einzutreffen. Der für mich bestimmte Piäno-Dampfer[1] sollte spätestens in drei Tagen von Suez abgehen. Prescott und die Chininkapsel sollten dann weiter helfen. Doch wer konnte voraussehen, wie sich in den kommenden zwei Jahren mein Vertrag und diese Kapsel zusammen vertragen würden? Assam klingt nicht sonderlich vertrauenerweckend. Wenn ich nicht so entsetzlich europamüde gewesen wäre, so wären beide, Vertrag und Kapsel, wohl nie dazu gekommen, mein Leben zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0504.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2022)
  1. „Piäno“ ist der im ganzen Orient übliche, abgekürzte Name für die Penninsular and Oriental Steamnavigation Company – kurz P and O –, wodurch nach englischer Art aus einem unbrauchbaren Firmentitel das nicht gerade schöne aber brauchbare Wort Piäno, mit dem Accent auf i, entstand.