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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Frau Maria dachte ebensowenig daran, Alix zur Kranken- oder Armenpflegerin zu machen, wie ihr ganzer Umgangskreis und das junge Mädchen selbst dies that. Aber sie wollte aus Alix keine weichliche Egoistin machen, sie wollte ihr die Wohlthat angedeihen lassen, ihren Gesichtskreis zu erweitern, damit sie lerne, mit offenen Augen um sich zu schauen. Sie sollte nicht nur mit ihresgleichen verkehren und gelegentlich an Vereine ein Almosen hinwerfen, ohne sich darum zu bekümmern, wem es zu gute kam. Sie sollte wissen, daß es Armut und Not auf der Welt giebt, und sie sollte die Mittel kennenlernen, sie einigermaßen zu lindern. Ihr Geld sollte ihr und andern zum Segen werden. Frau Maria lehrte ihren Zögling, zu geben, und damit erwies sie ihm die beste, bedeutungsvollste Wohlthat, die es in ihren Augen geben konnte.

Die jungen Damen, die nur für sich selbst auf der Welt sind und es nicht lernen, was es heißt, auch einmal für andere da zu sein und ein Opfer an Zeit oder Bequemlichkeit zu bringen, die mit ihrer naiven Ahnungslosigkeit womöglich in Gesellschaft kokettieren und lachend fragen, wie es einer Familie überhaupt möglich sei, mit fünfhundert Thalern auszukommen, die waren der Professorin ein Greuel. Sie hatte es sich selbst und ihrem Manne gelobt, Alix dürfe niemals wie eine von diesen werden, und sie hatte redlich ihr Wort gehalten. Stolz und launenhaft, herb und absprechend, wie die junge Erbin oft im Verkehr mit ihresgleichen war, hatte sie ein warmes Herz für alle Armen und Kranken, und sie verstand es, ihnen wohlzuthun auf ihre Weise.

Sie hatte im Laurentius’schen Hause oftmals in Krankheitsfällen hilfreiche Hand geleistet, sich mit Maria in die Pflege der Kinder abwechselnd geteilt und oft zu später Stunde neben den kleinen Betten gesessen, aber eine ganze Nacht hatte sie noch nie durchwachen dürfen!

Auch heute wollte man sie nicht wachen lassen. Alle waren dagegen, Justizrat Ueberweg, der Josephsthaler Arzt, Françoise, die beiden barmherzigen Schwestern. Warum sich nach der anstrengenden Reise die Ruhe nicht gönnen, da der Kranke ohne Bewußtsein lag, von ihrer Nähe nichts spürte und zur Pflege, soweit von einer solchen in diesem traurigen Fall überhaupt die Rede sein konnte, die „Schwestern“ zur Hand waren?

Alix ließ all diese Bitten und Vorstellungen über sich ergehen und beantwortete sie nur immer wieder mit demselben Satz: „Ob mein Vater weiß, daß ich da bin, oder nicht: die heutige Nacht kann seine letzte werden, und da will ich bei ihm sein!“

Sie hatten ihr endlich den Willen thun und gehen müssen – alle, die Pflegerinnen mit dem Vorbehalt, jede zweite Stunde nachsehen zu dürfen – und nun war sie mit ihrem Vater allein.

Er stöhnte und röchelte schon lange nicht mehr, er lag wie zuvor, als sie ankam, einer Leiche ähnlich, aber die Brust unter dem schneeweißen Linnen hob und senkte sich.

Die elektrische Lampe goß ihr klares, stetiges Licht über das große schöne Zimmer, in dem der sterbende Mann so viel gearbeitet und gedacht, in dem er all seine Pläne geschmiedet, seine neuen Schöpfungen ersonnen hatte. Auf dem großen Schreibtisch, der die halbe Wand einnahm, lagen noch die Pläne und Zeichnungen, die Entwürfe der Neubauten, mit denen er sich beschäftigt hatte; offene Briefe, Zettel mit Notizen von seiner Hand daneben – ein Bleistift in einer silbernen Hülse, so sorgsam quer über eine Tabelle mit Zahlen und Berechnungen gelegt, als müsse die Rechte, die diesen Stift geführt, jeden Augenblick wieder bereit sein, um ihn zu ergreifen. Ein großes Bild der neuen Schneidemühle, der Lieblingsschöpfung seiner rastlosen Unternehmungslust, hing über dem Schreibtisch, so daß der Blick des daran Sitzenden beim Aufsehen gerade darauf fiel. Große Mappen, reihenweise geordnet, lagen zur Linken. Auf der einen stand in großen Golddrucklettern zu lesen: „Walzmühle“, auf einer zweiten: „Preßhefefabrik“, auf der dritten: „Oelmühle“ – und so fort. Rechts neben dem Schreibtisch war ein Geldschrank in eine Mauervertiefung eingelassen, er schien einfach, aber sehr solid gearbeitet zu sein und wies nirgends ein Schloß oder eine Oeffnung auf. Ueber dem Geldschrank war auf schwerem gußeisernen Gestell eine schöne bronzene Uhr befestigt, eine Minerva stand neben dem Zifferblatt und sah mit ihren strengen ehernen Zügen wie die verkörperte Verstandesthätigkeit aus.

Alix’ Augen gingen in scheuer Hast rundum. War denn nirgends in diesem großen, geräumigen Zimmer Platz für ein Porträt ihrer Mutter oder für ihr eigenes gewesen?

Nein! Wie sie auch suchte und suchte, es fand sich nichts, es war überhaupt kein Porträt im Zimmer – nichts, was auf irgend eine persönliche Zuneigung des Besitzers schließen ließ.

Dem jungen Mädchen schnürte sich das Herz zusammen.

Sie neigte sich über die wachsbleiche Hand und küßte sie mit zuckenden Lippen. Die Hand lag nach wie vor regungslos und war so kalt, daß Alix einen eisigen Hauch bis ins Herz hinein zu fühlen meinte.

Durch die Stille der Nacht gab eine tieftönige Glocke aus einiger Entfernung die zwölfte Stunde an, es mochte die Josephsthaler Kirchenglocke sein. Die Uhr mit der bronzenen Minerva that ebenfalls zwölf volle, laute Schläge; erschrocken wandte sich Alix nach dem Kranken um. Er lag wie zuvor; es ging alles, alles spurlos an ihm vorüber.

Die Thürvorhänge teilten sich, und über den dicken Teppich kam lautlos eine der Pflegerinnen gewandelt, um nachzusehen, wie es stünde, und um die junge Dame zu überreden, sich niederzulegen.

Alix schüttelte wieder den Kopf:

„Ich würde doch nicht schlafen können! Ich möchte bleiben!“

Und sie blieb in dem großen stillen Zimmer allein mit ihrem Vater, der nicht sterben konnte.

Die Nacht ging hin. Töne erwachenden Lebens machten sich bemerkbar, langsam brach der Februarmorgen herein, mühselig kämpfte das bleiche Tageslicht gegen die strahlende Helle der elektrischen Flammen. Murmelnde Stimmen ließen sich im Nebenzimmer vernehmen. Françoise erschien mit verweinten Augen und brachte ihrem armen Liebling auf silbernem Tablett dampfenden starken Kaffee.

Ueberweg kam und winkte Alix mit einer bittenden Geste zu sich ins Nebenzimmer.

„Verzeihen Sie, daß ich nicht zu Ihnen komme! Aber wenn er uns auch nicht hört, es widerstrebt mir doch, neben seinem Schmerzenslager Dinge zu besprechen, die –“

Alix nickte ihm verständnisvoll zu.

„Es geht mir ebenso!“

„Nun, dann bitte!“

Er schob ihr in dem wohldurchwärmten Zimmer, in dessen Kamin ein helles Feuer brannte, einen Sessel hin. „Ich hätte allerlei mit Ihnen zu reden, meine liebe Alix! Ich habe mir nämlich erlaubt, einen selbständigen Schritt zu thun, mit dem Sie hoffentlich einverstanden sein werden –“

„Und der war?“

„Ihren Vetter Mr. Cecil Whitemore in London telegraphisch zu benachrichtigen. Er stand Ihrem Herrn Vater geschäftlich sehr nahe, die beiden Herren unterhielten seit Herrn von Hofmanns letzter Anwesenheit in England einen lebhaften Briefwechsel, und ich glaube bestimmt, Mr. Whitemores Hiersein dürfte notwendig sein und Ihnen, liebe Alix, in jeder Hinsicht nützen, da die vielfachen, oft sehr verwickelten Geschäfte doch nur von einem durchaus sachkundigen Mann - -“

„Wäre der nicht im Oberingenieur Harnack zu finden gewesen?“

Doktor Ueberweg blickte betroffen auf.

„Soll ich diese Frage so verstehen, als ob Sie mit meinem Telegramm an Mr. Cecil Whitemore nicht einverstanden wären?“

Alix hielt ihm rasch die Hand hin.

„Nein – nein, nein, es ist alles gut, wie Sie es anordnen, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich dachte eben nur, weil Sie diesen – diesen Herrn Harnack so sehr rühmten –“

„Das that ich, und das thue ich noch! Als Oberingenieur bei den Schneidemühlwerken halte ich ihn für geradezu unentbehrlich. Aber wohlverstanden: nur da! Ob er sonst fähig ist, die Disposition über den ganzen, so riesig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0518.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2022)