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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Der da drinnen aber im Zimmer, als könnte er sich nicht genug thun in der Wiedergabe der Melodie, begann sie von neuem, und nach einer kleinen Pause wieder von vorn.

Und seine Zuhörerin da draußen weinte, als sollte ihre Seele sich auflösen in heißen Thränen.

Zuletzt wurde es still im Zimmer.

Der Spieler klappte den Deckel am Piano zu und saß noch eine kleine Weile, wie in Gedanken eingesponnen; dann erhob er sich, und in demselben Augenblick wandte sich die dunkle Frauengestalt vom Hause fort und ging hastig ihren Weg zurück.

Markwart, der eifrig nach seiner Herrin Umschau gehalten hatte, war sehr froh, als er sie endlich langsam auf sich zuschreiten sah. Eine Zeit lang hatte er sie aus den Augen verloren gehabt, und da war ihm bange geworden. Was das auch für eine Idee gewesen war, hier neben den halbfertigen Bauplätzen in völliger Dunkelheit auszusteigen und eine einsame Promenade zu machen – eine vornehme junge Dame, der man vor kaum vier Tagen ohne weiteres am hellen lichten Tag den Vater niedergeschossen hatte! Furcht mußte die nicht kennen, und das imponierte Markwart, ebenso ihr freundlicher, aber fester Gebieterton, der das Befehlen gewöhnt war. Sie nahm jetzt den Schleier herunter, stieg ein und sagte mit gedämpfter Stimme: „Sie können nach Hause fahren!“

7.

Wer nach einem Todesfall nahestehender Menschen das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr fühlt, der darf dieselbe in den ersten Tagen, die dem Verlust folgen, nicht erwarten.

Die Welt ist nun einmal so! Es ist Sitte, den Leidtragenden Teilnahme zu erzeigen, gleichviel, ob man sie empfindet oder nicht; sie tritt auf, sie drängt sich herzu in jeder denkbaren Form, und Leute, die oft innerlich todeswund sind, die ihren Jammer kaum zu ertragen vermögen, werden gezwungen, zahllose Besuche entgegenzunehmen, Beileidsworte anzuhören, Briefe zu lesen, Blumenspenden zu empfangen, kurz, den ganzen üblichen, weitschichtigen Apparat der „Trauerfeierlichkeiten“ um sich herum arbeiten zu sehen.

Alix hätte kaum gewußt, wie dies alles überstehen, ohne Vetter Cecils umsichtigen Beistand, zumal ihr Onkel aus Metz durch Krankheit am Kommen verhindert war. Cecil konnte ihr nicht alles ersparen, sie nicht immer schonen; aber wo es irgend anging, da that er es gewiß. Zahlreiche Leute, welche nichts als die gewöhnlichste Neugier, die so lange unsichtbar gewesene Tochter des Ermordeten, die Erbin des reichen Herrn von Hofmann zu sehen, nach Josephsthal getrieben hatte, mußten sich mit dem Anblick des englischen jungen Verwandten begnügen, der sie mit tadelloser Höflichkeit empfing und im Namen seiner Cousine alle Beileidsäußerungen und herrlichen Blumengaben in Empfang nahm: „Alexandra wird so sehr bedauern! Sie läßt durch mich bestens danken und sich vielmals entschuldigen, ist aber wirklich viel zu angegriffen, als daß ich ihr persönliches Erscheinen gestatten dürfte!“

Im übrigen zeigte er sich nicht besonders mitteilsam, dieser junge englische Herr. Ueber die Mordthat behauptete er, gar nichts Näheres zu wissen, Vermutungen sprach er nicht aus, über seine Cousine, ihre Persönlichkeit, ihre ferneren Absichten beobachtete er die äußerste Zurückhaltung, und die etwaigen Pläne und Bestimmungen seines verstorbenen Oheims versicherte er, nicht zu kennen. Die im großen Festsaal aufgebahrte Leiche bekam niemand zu sehen; wer eine Andeutung dieser Absicht wagte, erhielt die Antwort, es sei ein zu erschütternder Anblick, und die Tochter des Verstorbenen wünsche nicht, daß jemand zur Besichtigung zugelassen werde.

Am dreiundzwanzigsten Februar ein Uhr mittags läuteten die Josephsthaler Kirchenglocken und die der umliegenden Ortschaften zur Totenfeier für den Mann, der in seinem Distrikt und weit über denselben hinaus das Ansehen eines Herrschers genossen hatte.

Seit der Nacht war leichter Frost eingefallen, die Sonne lachte am lichtblauen Himmel, die Bäume standen im Rauhreif. Zahllose Schlitten lenkten ihren Lauf zum Josephsthaler Schloß, von dessen Zinne die Trauerflagge, auf Halbmast gehißt, im leichten Winde wehte. Schwarz verhüllt die lichten Marmorstufen im Innern des Schlosses, schwarz bezogen die Treppengeländer, mit Krepp umwickelt sämtliche Griffe und Thürdrücker. Von den Waffentrophäen in der Halle wallten lange schwarze Florschleier nieder. Bewegungslos, die langen Goldstäbe mit mächtigen schwarzen Schleifen und Bändern umwickelt, standen zwei Bediente des Hofmannschen Hauses in ihren Trauerlivreen neben dem Portal, während andere geräuschlos vor den Ankommenden herhuschten und sie in den Trauersaal geleiteten, in dessen Mitte unter einer Flut von Blumen und Palmen der hohe Katafalk aufgestellt war. An der linken Langseite desselben hatten die zahlreichen Oberbeamten der Josephsthaler Werke Aufstellung genommen, während den Gästen die rechte Hälfte des Saales sowie dessen Hintergrund angewiesen wurde.

Als alle, die gekommen waren, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, sich versammelt hatten, thaten die hohen Flügelthüren sich auf, und unter Vorantritt des Josephsthaler Geistlichen kam Alexandra von Hofmann am Arm ihres Vetters Cecil Whitemore langsam näher.

Die vielen Augen, die auf sie geheftet waren und erwartet hatten, eine Schönheit zu sehen, wurden nicht enttäuscht. Schön war Alix in diesen langschleppenden tiefschwarzen Gewändern mit ihrem blütenweißen jungen Gesicht, dem feinen, stolzen Profil und dem rotbraunen Haar. Gesenkten Hauptes schritt sie an ihren Platz. Die Trauerfeierlichkeit begann.

Der Josephsthaler Prediger sprach von dem Toten als von dem genialen Gründer der Josephsthaler Kolonie, dessen Wirksamkeit für die Gegend eine neue Aera bedeute, er sprach von ihm als von einem unermüdlich hilfreichen und gütigen Wohlthäter, der voll Humanität gewesen sei im edelsten Sinn des Wortes. Von der Verwaisung redete er, die über all die Hunderte, die diesem einziggearteten Mann unterstellt gewesen seien, fortan gekommen sein müsse, von der Verwaisung, die vor allen seine einzige Tochter betroffen.

Alix stand mit gesenktem Blick, gesenktem Haupte da und ließ den unaufhaltsamen Strom der feurigen Beredsamkeit ohne Bewegung über sich ergehen. Die Thränen blieben ihr auch jetzt wieder versagt. – Und nun setzte sich der Trauerzug nach der Schloßkapelle in Bewegung. Der Weg dahin führte ein gutes Stück durch den Park, an dessen westlicher Seite die Kapelle lag. Vor dem Schloß waren sämtliche Arbeiter, die zur Kolonie Josephsthal gehörten, aufgestellt, eine schwarze, mehrhundertköpfige Menge, welche die Häupter entblößte, als der blumenbedeckte Sarg inmitten des Portals sichtbar wurde.

Acht Leute der Schneidemühle hoben den Sarg auf ihre Schultern – die Glocken läuteten ununterbrochen und die aus Greifswald verschriebene Militärmusik stimmte einen Trauermarsch an. Langsam setzte das ungeheure Leichengefolge sich in Bewegung.

Noch einmal vor der geöffneten Thür der mit Blumen reichgeschmückten Kapelle wurde der Sarg niedergesetzt, noch einmal sprach der Geistliche, diesmal im Freien, mit lautschallender Stimme zu der versammelten Arbeiterbevölkerung.

Dann war der Sarg in die Gruft hinabgelassen worden, und Freiherr von Hofmann war der Erde wiedergegeben, von der er genommen war.

Für Alix folgte noch eine peinvolle halbe Stunde, da viele Leute aus der Nachbarschaft ihr vorgestellt zu werden wünschten, die behaupteten, gute Freunde ihres Vaters gewesen zu sein, sich ihrer, der kleinen Alix vor zehn Jahren, noch deutlich zu entsinnen, und beanspruchten, daß auch sie sich ihrer deutlich entsänne.

Aber endlich waren sie alle miteinander fort, und Alix zog sich in ihre Zimmer zurück, sprach ein paar beruhigende Worte zu der sie beständig umsorgenden Françoise und begann für sich allein den Brief ihrer Maria zu lesen, der heute früh in Begleitung eines schönen Arrangements von Palmzweigen und weißen Rosen bei ihr eingetroffen war. Der Brief lautete:

„Ich will haben, daß Du diese Worte am dreiundzwanzigsten Februar lesen sollst, mein geliebtes Herz, und, wie ich meine Alix kenne, wirst Du sie dann erst lesen, wenn der schwere und traurige Akt, der Dir heute bevorsteht, überwunden ist. Du sollst es empfinden, daß ich mit meiner ganzen Seele bei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0526.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2022)