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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wenn ich Sie recht verstand, noch genug zu sorgenfreiem Leben – und Sie sind ja nicht materiell!’

Er blickte auf. ,Nein,‘ entgegnete er, ,aber ich bin an so vieles gewöhnt. An einen Stall voll guter Pferde – an meinen Park – an die Zugehörigkeit meiner Leute – lassen Sie sich das alles mal unter den Händen zergehen wie eine schöne bunte Seifenblase – das ist gar nicht hübsch, Rütgers, das können Sie mir glauben! Und wenn ich das so kommen sehe, dann packt mich manchmal eine unsinnige Furcht – nicht davor, aber vor mir selber – ich denke dann, ich werfe der ganzen Sache die Zügel auf den Hals und lasse sie hinrasen – und wenn ich mir mal durchgehe, dann hole ich mich nie mehr ein – ich kenne mich leider in dem Punkt ganz genau. Ich habe keine Energie, Rütgers – und solche Menschen wären besser gar nicht auf der Welt!‘

Ich ließ ihn ruhig ausreden – dann sprach ich ihm zu mit aller Wärme, die ich für ihn empfand und die sich vielleicht dadurch noch steigerte, daß mir ein unheimliches Gefühl sagte, er habe nicht unrecht in seinem Urteil über sich selbst.

Von diesem Abend an waren wir, so lange ich noch in der Stadt blieb, eigentlich unzertrennlich geworden; er ging fast nie an meiner Thür vorüber, ohne anzuklopfen oder hereinzukommen, und als ich einige Monate später meine Uebersiedlung nach Roswyk ins Werk setzte, schieden wir als Duzbrüder und treueste Freunde. Er hatte sich körperlich sehr erholt, obwohl ich ihn nie für sehr widerstandsfähig hielt – und als ich ihm Lebewohl sagte, nahm ich ihm das Versprechen ab, mich, wenn irgend möglich, im Laufe des Jahres zu besuchen und jedenfalls von sich hören zu lassen.

In Roswyk angekommen, fand ich mich durch meine Verhältnisse und meine Arbeit so in Anspruch genommen, daß ich zunächst nicht dazu kam, viel an Allan Senden zu denken. Das kleine Fischerdorf, welches ich nun als Heimat zu betrachten hatte, gefiel mir sehr wohl. Es kauerte sich wie furchtsam im Schutz der dicht bewachsenen Dünen zusammen, auf die es nur ein paar Ausläufer in Gestalt von Villen und Häusern gesandt hatte, die während des Sommers von Fremden bewohnt wurden.

Eines dieser Häuser hatte mir mein Kollege, fertig eingerichtet, überlassen, und ich fühlte mich darin unter dem Scepter meiner alten sauberen Haushälterin bald sehr behaglich.

Von den Villen auf der Düne war eine bereits für den Sommer vermietet, die andere immer in festen Händen. Diese letztere, das sogenannte Seeschloß, lag weiter vom Meere ab; es war im Stil eines alten herrschaftlichen Landhauses gebaut, mit breiter, ringsumlaufender Steinterrasse, dicken Mauern und hohen, hellen Zimmern. Es gehörte, wie ich erfuhr, einer verwitweten Frau von Redebusch, die mit ihrer einzigen Tochter Annie jeden Sommer hier zu verbringen pflegte und auch demnächst erwartet wurde.

Ein drittes Haus, die Villa Bella, an Zierlichkeit und Eleganz den andern Fremdenwohnungen weit überlegen, mit bedeckter Glasveranda, die durch Topfpflanzen und Palmen wie ein kleines Treibhaus erschien, mit hellen, schönen Räumen, wurde von einem alten pensionierten General von Eichenkron bewohnt, der zunächst fast der einzige Badegast in Roswyk war und bei dem ich, wenn seine Nervenschmerzen ihm gerade Ruhe und Stimmung dazu ließen, hin und wieder eine Stunde beim Schachspiel verbrachte. Er war ein hübscher alter Herr, mit dem Gesicht eines Marquis aus dem ancien régime, und ein Zug kühler, leichter Frivolität, der auf diesem Gesichte lag, paßte ganz gut dazu; aber er hatte Verstand, und es ließ sich mit ihm plaudern.

An einem Abend, als ich eben im Begriff war, mich zu diesem Bekannten und Patienten zu begeben, traf ich den Briefboten auf dem Wege nach der Villa Bella; er übergab mir einen Brief von Allan Senden, der mich in Ueberraschung und auch etwas in Sorge versetzte.

Mein Freund teilte mir in kurzen Worten mit, daß er sich verlobt habe, und zwar – wie sonderbar der Zufall es manchmal fügt! – mit eben dem Fräulein von Redebusch, deren Mutter Eigentümerin des Seeschlosses sei. Er schrieb sehr glücklich über diese neueste Wendung seines Lebensschicksals, in so ruhigem, herzlichem Ton, daß ich den guten Einfluß dieser Verlobung mit großer Befriedigung zwischen den Zeilen las, und legte ein Bild seiner Braut bei. Dieses Bild zeigte ganz das, was ich für Allan gewünscht und gewählt hätte – ein stilles, liebliches Gesicht mit einem klaren, reinen Ausdruck, den ich nicht besser zu schildern weiß, als wenn ich sage, daß mir beim Anblick des Bildes das Bibelwort in den Sinn kam: ,So sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nichts schaden!‘ – ein Gesicht ohne Arg und ohne Falsch! Ich vertiefte mich eine ganze Weile in die Betrachtung der Photographie, ehe ich den Brief zu Ende las, der immerhin noch Wichtiges enthielt. Allan schrieb weiter, er sei vor kurzem mit dem Pferde gestürzt, habe sich ein paar Rippen geknickt und infolgedessen einen ganz leichten und ungefährlichen Husten davongetragen, aus dem aber der Arzt unnötig viel mache, weshalb er ihn einige Wochen lang an die Nordsee schicken wolle. Selbstverständlich kämen sie nun alle zu mir nach Roswyk, wo ja Frau von Redebusch ihr eigenes Haus habe und wo ich ihn unter meine Aufsicht nehmen könne – ,aber nicht als Arzt!‘ wie er gleich hinzusetzte. ,Ich bin ja ganz gesund,‘ hieß es in dem Briefe weiter, ‚aber ich kenne Dich und kenne mich! Du würdest Dein altes, ehrliches Doktorgesicht vielleicht nicht ganz verstellen können, wenn Du Dir einbildetest, irgend etwas an mir erhorcht oder erklopft zu haben, und ich weiß, daß ich die Sonnenuhr meiner Stimmung nach jedem Schatten auf Deinem Gesicht stellen würde. Ich gehe in jeder Weise gern hier fort,‘ schloß der Brief, ,denn mein Prozeß steht vor einer Entscheidung in erster Instanz, und ich kann nichts anderes, als täglich zu meinem Rechtsverdreher gehen und mir die Segel voll Hoffnung oder voll Schwermut blasen lassen – je nachdem!‘

Ich kam infolge dieses Briefes etwas verspätet zum General, der mich in ziemlich schlechter Laune empfing.

‚Jch bin wieder mal auf Wartegeld gesetzt,‘ brummte er, ‚meine Enkelin, die sich seit vier Wochen täglich an- und abmeldet, schreibt mir, daß sie wegen eines Sommerballes oder ähnlicher, welterschütternder Ereignisse noch nicht kommen kann. Und wenn sie kommt, wird sie mir das Leben schwer genug machen – vielleicht freilich auch angenehmer – das versteht sie beides vortrefflich! Was sie überhaupt hier anfangen wird, ist mir vorläufig ganz unklar. Natur ist ihr absolut gleichgültig, sofern sie ihr nicht durch irgend einen Lichteffekt zu Gesicht steht, und Menschen giebt es ja hier nicht – die Anwesenden ausgenommen!‘ setzte der General mit einem glücklichen Nachgedanken hinzu.

‚Danke!‘ sagte ich mit flüchtigem Lächeln.

,Ja, das dürfen Sie nicht übelnehmen,‘ fuhr er fort, Menschen sind für meine kleine Sinaide nur Leute, die ihr den Hof machen und sich von ihr den Kopf verdrehen lassen, und das werden wir beide wohl nicht thun.‘

‚Ich glaube kaum,‘ sagte ich lachend, ,und ich kann Ihrer Enkelin auch wenig Hoffnung auf Ersatz geben; es kommt zwar ein junger Freund von mir in nächster Zeit her, aber der ist seit kurzem glücklicher Bräutigam!‘

,Fatal!‘ meinte der alte Herr im vollsten Ernst, ,wer ist er denn?‘

Ich erzählte von Allan, und der General sah lebhaft in die Höhe: ,Allan Senden – den kenne ich ja, habe ihn als Fähnrich bei meiner Brigade gehabt – schicken Sie mir den Jungen nur bald mal her! Ich war ohnehin in letzter Zeit öfter in Gedanken mit ihm beschäftigt. Wir haben denselben Rechtsanwalt, und der berichtet mir immer von seinem Prozeß. Sehen Sie, wenn man selbst nichts mehr zu thun hat, steckt man die Nase in anderer Leute Affairen, und solch juristisches Hazardspiel ist nicht ohne Interesse.‘


Am Tage nach dieser Unterredung waren die Besitzerinnen des Seeschlosses angekommen. Allan sollte ihnen erst in einigen Tagen folgen – ich hatte beschlossen, ihn bei mir im Hause wohnen zu lassen, und er sollte alles in vollster Behaglichkeit und Ordnung vorfinden, wenn er kam.

Ich machte die Bekanntschaft der beiden Damen sehr bald, oder besser, ich schloß rasch Freundschaft mit ihnen – ob es das gemeinsame Empfinden für Allan war, ob das ungreifbare, unschätzbare, undefinierbare Fluidum, das man Sympathie nennt, ich weiß es nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß ich nach zwei, drei Abenden, die ich in den nun so behaglichen Räumen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0534.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2022)