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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Deutschland sich mit der Schnelligkeit des Blitzes verbreitete und bis zu unserem verlorenen Winkel erstreckte. In Wien wurde Metternich und sein schändliches System gestürzt, in Berlin auf den Barrikaden gegen das absolute Regiment, den Polizeistaat, die Unterdrückung der Volksrechte, für die Freiheit und die Einheit Deutschlands erfolgreich gekämpft. Die Nachricht von dem Siege über die damals herrschende Reaktion erfüllte alle Herzen mit einem Freudenrausch, einem Wonnetaumel. Ein Völkerfrühling schien gekommen, ein Ostermorgen der Freiheit, ein Erwachen des ganzen Volkes zu einem neuen, schöneren Leben. Auch das so schwer heimgesuchte und in der politischen Bildung zurückgebliebene Oberschlesien vernahm die frohe Botschaft mit einem jeder Beschreibung spottenden Jubel. Ich selbst war tief ergriffen und fortgerissen von der allgemeinen Bewegung.

Mit einigen gleichgesinnten Freunden eilte ich am 20. März nach dem Gleiwitzer Bahnhof, wo eine wogende Menschenmenge voll banger Erwartung stand, um Näheres über die Gerüchte von einem blutigen Straßenkampf in Berlin zu erfahren. In höchster Aufregung stürzten wir dem von Breslau kommenden Morgenzug entgegen. Hier bot sich unseren Augen ein überraschendes Schauspiel: von der dampfenden Lokomotive und sämtlichen Waggons wehten die verpönten schwarz-rot-goldnen Fahnen, alle Passagiere und selbst die Schaffner waren mit der bisher verbotenen deutschen Kokarde geschmückt. „Sieg, Sieg!“ schallte es von hundert Lippen aus allen Fenstern der Wagen, und „Sieg, Sieg!“ jauchzte die begeisterte Menge. Man ließ kaum den Passagieren so viel Zeit, um auszusteigen und in die Restauration zu treten. Hier mußten sie erzählen, und atemlos lauschten wir den Berichten von den Thaten des Volks in Berlin, wie es durch seinen Widerstand, seine Aufopferung und Tapferkeit den Absolutismus bezwungen und das verhaßte Regierungssystem gestürzt.

Diese Mitteilungen, eine Mischung von Dichtung und Wahrheit, wurden mit unbeschreiblichem Enthusiasmus aufgenommen und erhöhten noch die freudige Aufregung. Wir stimmten das bisher verbotene Lied vom Deutschen Vaterlande an und zogen dann Arm in Arm, singend, nach der Stadt zurück, wo sich die Nachricht von der siegreichen Revolution wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus verbreitete. Bald bestätigten die ausführlichen Berichte der Zeitungen, die man sich aus den Händen riß, die immer noch von einzelnen bezweifelte Kunde. Doch die Mehrzahl war von der Wahrheit überzeugt und überließ sich der maßlosesten Freude, voll Hoffnung, daß die neue Freiheit aller Not und allen Beschwerden, die man erlitten, ein Ende machen würde. Die bedrückten Herzen schlugen leichter, die Augen strahlten heller, und die Geister träumten von einer schöneren und besseren Zukunft.

Selbst die Natur schien den allgemeinen Jubel zu teilen und sich mit den glücklichen Menschen zu freuen. Nie war der Monat März so schön und warm in unserem rauhen nordischen Klima erschienen als im Jahre 1848. Die Sonne leuchtete klar und mild an dem blauen, wolkenlosen Himmel, die Erde schmückte sich mit frischem Grün wie zu einem Fest, die Obstbäume blühten, die Veilchen dufteten und die Vögel sangen um die Wette mit den frohen Menschen. Ueberall ein Keimen und Drängen, ein Knospen und Blühen, ein Leben und Schaffen in den Wäldern, auf den Feldern, in den Herzen und in den Geistern! Die ganze Welt schien über Nacht verwandelt, das Leben veredelt, alle Schranken und Hindernisse geschwunden, eine goldene Zeit gekommen. Das schwere Leid war vergessen, die böse Krankheit gewichen, und selbst der arme, bedrückte Landmann freute sich beim Anblick der jungen, hoffnungsvollen Saaten. Ein Bruderband umschlang die Herzen; Adel und Bürger, Besitzer und Proletarier reichten sich die Hände! Der Unterschied der Stände, der Rassen und Religionen schien gefallen, und jedes derartige Vorurteil erregte nur noch Spott oder Mitleid.

Doch nur zu schnell sollten diese ersten schönen Tage der jungen Freiheit schwinden, und dem beglückenden Rausche sollte ein trauriges Erwachen folgen. Bald entbrannte von neuem der Kampf der Parteien und Interessen, der Nationalitäten und Konfessionen, nur noch heftiger und leidenschaftlicher als zuvor. Obgleich die politische Bildung des Kreises nur gering war, fehlte es in der Stadt nicht an Volksversammlungen, an Rednern und Agitatoren, an konservativen und freisinnigen Elementen, die sich feindlich gegenüberstanden. Die dadurch hervorgerufene Aufregung wurde noch durch die von dem neuen Ministerium ausgeschriebenen Wahlen zu dem konstituierenden Landtag in Berlin und zu dem Deutschen Parlament in Frankfurt a. M. gesteigert. Die Parteien bildeten sich; auf der einen Seite die adligen Grundbesitzer, die reichen Industriellen, das Militär, ein großer Teil der Beamten, die katholische Geistlichkeit und die Lehrer des Gymnasiums; auf der anderen Seite der nur schwach vertretene höhere Bürgerstand, freisinnige Rechtsanwälte, Aerzte, Kaufleute, Hüttenmänner und Handwerker, die von der Revolution eine Verbesserung ihrer Lage forderten und erwarteten.

Da Urwahlen angeordnet waren, lag die Entscheidung hauptsächlich in den Stimmen des durch seine überwiegende Zahl den Ausschlag gebenden Landvolks, das sich vorläufig noch ganz passiv zu verhalten und sich um die künftige Verfassung wenig oder gar nicht zu kümmern schien. Was ging auch den oberschlesischen Bauern die Freiheit der Presse, die Abschaffung der Censur und das Versammlungsrecht an? Er dachte nur an die Befreiung von seinen Lasten, an die Verminderung seiner Abgaben, an die Aufhebung der dem Grundherrn schuldigen Ablösung, an seinen Vorteil und seine Interessen.

In der Stadt wurden Beratungen veranstaltet, Reden gehalten, Kandidaten aufgestellt und angehört. Die konservative Partei entschied sich für den Landrat des Kreises und rechnete dabei mit Sicherheit auf die Majorität des unterthänigen, der Obrigkeit bisher gehorchenden Landvolks; wogegen die Freisinnigen sich über die Kandidatur eines angesehenen und beliebten Rechtsanwalts einigten, der auch auf den Dörfern eine bedeutende Praxis besaß und die Rechte der Gemeinden wahrgenommen und mit Erfolg vertreten hatte. Beide Parteien suchten für sich die Gunst und die Stimmen der jetzt so wichtigen Bauern durch alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu sichern, stießen aber auf ein unter scheinbarer Ergebenheit verhülltes Mißtrauen.

Auch die so gleichgültig und indifferent sich stellenden Bauern beschäftigten sich im stillen mit den Wahlen, saßen abends bei der Branntweinflasche im „Kretscham“, ihrer Schenke, steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich heimlich über die geeigneten Kandidaten. Das stand bei allen fest, daß sie keinen Herrn, selbst nicht den Landrat, haben wollten, sondern einen aus ihrer Mitte, der ihre Klagen und Beschwerden, ihre Wünsche und Forderungen teilte und von dem sie glaubten, daß er ihre Sache vertreten, ihre Rechte und Vorteile wahrnehmen werde. Vor allem mußte er ein geriebener Schlaukopf sein und den vornehmen Herren gewachsen.

Als ein solcher Mann erschien ihnen der Häusler Kiolbassa, ein kleiner, aber verschmitzter Bauer, der in seiner Gemeinde das große Wort führte, in allen verwickelten Angelegenheiten guten Rat wußte, verschiedene Prozesse mit der Gutsherrschaft geführt und gewonnen hatte, mit den Gesetzen und Advokatenkniffen gut Bescheid wußte und, sozusagen, mit allen Hunden gehetzt war. Außerdem war Kiolbassa im ganzen Kreise bekannt, zählte viele Freunde und Anhänger, bei denen er in hohem Ansehen wegen seiner Klugheit stand und denen er allen jetzt die größten Versprechungen machte. – In einer zu diesem Zweck veranstalteten Versammlung der Wahlmänner verpflichtete sich Kiolbassa feierlich, nur für die Interessen seiner Wähler zu stimmen, ihnen jeden möglichen Vorteil zuzuwenden, sie von allen drückenden Abgaben zu befreien und die Ansprüche der Herren mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen; worauf er fast einstimmig zum alleinigen Kandidaten für den konstituierenden Landtag ernannt wurde, während man für das Parlament in Frankfurt sich für den Premierlieutenant v. Bodien erklärte, der als Regierungskommissar während der Typhusperiode die Verteilung von Lebensmitteln und Saatkartoffeln geleitet und sich dadurch dem Landvolk vorteilhaft empfohlen hatte.

Groß war daher die Ueberraschung und Enttäuschung, als am Wahltage weder der konservative Landrat, noch der freisinnige Rechtsanwalt die Mehrheit der Stimmen erhielt, sondern der des Lesens und Schreibens unkundige Bauer Kiolbassa und der Premierlieutenant v. Bodien, letzterer ein geistreicher Lebemann, der sich weniger durch parlamentarische Tüchtigkeit als durch sein Talent, Karikaturen zu malen, auszeichnete, wodurch er die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zog

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0543.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2022)