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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Schloß Josephsthal.
Roman von Marie Bernhard.
(3. Fortsetzung.)


8.

Lustiges Schneetreiben! „Frau Holle schüttelt ihre Federbetten!“ heißt es im Volksmunde.

Alix hatte als Kind das reizende Grimmsche Märchen von der Frau Holle besonders gern gehört und gelesen; beim Anbruch des Winters hatte sie oft lange Zeit am Fenster gestanden und dem hastigen Treiben der Schneeflocken zugesehen! – – – Heute saß sie über zwei dicke Bücher voller Zahlenreihen und Namen gebeugt, verglich emsig die langen Spalten miteinander, machte sich Notizen in ihre Brieftafel und hatte keinen Blick dafür, wie eifrig draußen Frau Holle ihre Federbetten schüttelte. – Ihr Vetter Cecil hatte ihr heute, wie jeden Tag, eine Aufgabe gestellt, die mußte sie erfüllen. Sie hatte ihn gebeten, sich ihrer anzunehmen, damit sie wenigstens einen ungefähren Einblick in die Verhältnisse bekomme, die fortan so sehr wichtig für ihr Leben werden sollten. Fachstudien konnte Cecil mit ihr naturgemäß nicht unternehmen, zum Oberingenieur konnte er sie nicht machen, aber über Gewinn und Verlust, über ihre Konkurrenten und Lieferanten, über den Stand des Arbeitsmarktes, vor allem über die Verhältnisse der Josephsthaler Leute vermochte er ihr Aufschluß zu geben. Alix hatte ihm gesagt: „Setzen Sie keinerlei Vorkenntnisse bei mir voraus, und wundern Sie sich nicht, wenn ich oft aus meiner Unwissenheit heraus Fragen an Sie stellen werde, die Ihnen einfältig erscheinen müssen!“

In seiner korrekten Weise und mit dem praktischen Sinn, den ihm einmal die Natur, anderseits die jahrelange Uebung verliehen, hatte der junge Whitemore diese Aufgabe erfaßt. Es fiel ihm nicht ein, seine Cousine mit galanten Redensarten zurückzuweisen. Sie wünschte es sich, sie traute es sich zu – für dumm hatte er sie nie gehalten – also that er ihr den Willen! Er hatte sich ganz darauf eingerichtet, für längere Zeit, mindestens ein Jahr, in Josephsthal zu bleiben, hatte auch in diesem Sinne an seinen Vater geschrieben und um Urlaub gebeten, vielleicht konnte er sogar beständig hier bleiben und für seine Cousine die Werke verwalten …. nun, das blieb abzuwarten! Man mußte einstweilen zusehen!

Ebenso selbstverständlich wie sein Bleiben fand er die Thatsache, daß auch Alix gar nicht daran dachte, fortzugehen, sondern sofort bestrebt war, sich eine Art Ueberblick über ihr neues Besitztum zu verschaffen. Wäre sie auf und davon gegangen, ohne sich um ihr Erbteil zu kümmern, so hätte zwar Cecil kein Wort dazu gesagt – in seinem Innern würde er sie aber eine sehr oberflächliche und leichtsinnige Person genannt haben.

Sie hatten es beide schwer – denn ihm waren die deutschen Leute und Verhältnisse fremd, und sie hatte keine Ahnung von all den Dingen, die ihm schon mit fünfzehn Jahren geläufig gewesen waren. Es galt also, mit ihr wie mit einem Kinde beim geschäftlichen Alphabet anzufangen, sie doppelte Buchführung, eine leichtfaßliche Rechenmethode, die gebräuchlichsten Ausdrücke der Geschäftswelt zu lehren – aber als der junge Engländer bemerkte, daß die Schülerin ernstlich wollte, daß sie sich redliche Mühe gab, zu begreifen, und, dank ihrer Intelligenz, auch in der That begriff, da fing die Sache an, ihm Freude zu machen. Und nun ging er rasch mit ihr voran.

Alix sah jetzt schon, daß Cecils Methode richtig und daß sie in den wenigen Wochen sehr gefördert worden war, und dies erfüllte sie mit einiger Genugthuung. Daß die Sache an und für sich ihr Freude machte, konnte sie nicht behaupten. „Hätte ich einen Beruf zu wählen – Kaufmann oder Buchhalter wäre ich nie geworden!“ hatte sie schon oft gedacht.

Mit den Arbeitern war sie bisher noch in gar keine Berührung gekommen. Sie wurde, wenn sie durch die Kolonie fuhr, von ihnen gegrüßt und dankte jedesmal freundlich, das war vorläufig alles! Sie fühlte, hier mußte sie erst viel sicherer werden, einen ganz andern Einblick haben, ehe sie Reformen versuchte. Die Rolle der segenspendenden Fee, so sehr sie’s oft danach gelüstete, mußte sie einstweilen ganz beiseite lassen! Dagegen war sie mit den verschiedenen Direktoren, Ingenieuren, kurz, mit den Oberbcamten der Werke in Verbindung gekommen. Sie alle hatten der Tochter ihres ehemaligen Chefs pflichtschuldigst ihren Besuch gemacht, die verheirateten unter ihnen hatten ihre Frauen mitgebracht, und Alix dachte daran, allmählich diese Visiten zu erwidern. Von manchen hatte sie einen günstigen Eindruck empfangen, von wenigen einen unvorteilhaften, von einzelnen überhaupt keinen. Sie kamen ihr aber ohne Ausnahme mit großer Reserve, wenn auch mit ausgesuchter Höflichkeit, entgegen, und Alix glaubte hieraus einen Rückschluß auf das Verhältnis ziehen zu können, welches ihr Vater seinen Beamten gegenüber für angezeigt erachtet hatte.

Seit etwa acht Tagen war sie nun auch im Besitz einer Gesellschaftsdame. Die Majorin von Sperber, mit der sie selbst in Briefwechsel getreten war, hatte sich gern bereit finden lassen, den Posten einer Ehrendame bei dem verwaisten jungen Mädchen anzunehmen; sie hatte ihre Ankunft thunlichst beschleunigt, um Fräulein von Hofmann nicht so lange allein zu lassen, und war aus dem geräuschvollen Berlin nach dem zur Zeit sehr stillen Josephsthal gekommen. Sie versicherte aber, den Tausch durchaus nicht zu bereuen, ihre Nerven bedürften der Ruhe, und sie wisse sich jederzeit gut zu beschäftigen; Langeweile sei ihr ein ganz unbekannter Begriff. Eine stattliche hohe Fünfzigerin mit vollen, grauen Puffenscheiteln, stets in dunkle, gutsitzende Kleider gehüllt – vorwiegend Seide – würdevoll, aber nicht prätentiös auftretend, freundlich und teilnehmend gegen Alix, ohne ihr zu viel Fürsorge und mütterlichen Schutz aufdrängen zu wollen, voller Anteil, ohne neugierig zu sein …. es schien, wie das junge Mädchen ihrer Freundin Maria zu deren großer Beruhigung schrieb, als ob der Griff in die Glückslotterie günstig ausgefallen sei. Recht gut traf es sich auch, daß die Majorin musikalisch war und einen gediegenen Geschmack in dieser Kunst entwickelte. Alix, die stets die besten Lehrer gehabt hatte, besaß eine hübsche Fertigkeit im Klavierspiel und ein lebhaftes Gefühl für wirklich wertvolle Musik. Die beiden Damen hatten sich rasch über ihr Repertoire und ihre Richtung miteinander verständigt – die Majorin schwärmte nicht so für Richard Wagner wie Alix dies that, sie war dafür eine gründliche Beethoven-Kennerin, und nun freuten beide sich schon der Genüsse, die sie haben würden, wenn Alix’ kostbarer Konzertflügel erst von Frankfurt herübergekommen sein würde.

Unter denjenigen, die der Erbin der Josephsthaler Werke pflichtschuldigst einen Besuch abgestattet hatten, war auch Oberingenieur Harnack gewesen. Bei einem der obersten Beamten des verstorbenen Herrn von Hofmann verstand sich dieser Besuch wohl von selbst, aber Alix beobachtete zu gut, um nicht alsbald herauszufinden, daß der junge Mann sich dieser ihm obliegenden Pflicht mit einem offenbar freudigen Eifer unterzog, der zu der höflichen Steifheit und abwartenden Haltung des übrigen Personals einen starken Gegensatz bildete. Die Unterhaltung mit ihm war denn auch animierter gewesen und hatte länger gedauert als mit allen andern. Der Oberingenieur hatte weite, schöne Reisen unternommen und schien ein recht unterrichteter, belesener Mann zu sein; er sprach gut, verstand aber ebensogut, verständnisvoll zuzuhören. Auch gefiel es Alix, daß er kein Hehl aus seiner niederen Herkunft machte; er erzählte unbefangen, sein Vater sei ein armer Grubenarbeiter im oberschlesischen Gebirge gewesen und habe es unter den größten Mühen und Entbehrungen durchgesetzt, ihn aufs Gymnasium zu bringen, wo er schon als Tertianer Nachhilfestunden gegen freie Kost oder ein ganz geringfügiges Honorar geben mußte. Seine offenbare Bewunderung Alexandras hatte nichts Zudringliches mehr; er schien ganz bereit, sie aus ehrerbietiger Entfernung anzubeten, und das gefiel dem verwöhnten Mädchen, namentlich in seiner jetzigen Gemütsstimmung, wohl. Vetter Cecil konnte den Ingenieur nicht genug rühmen: seine umfassenden Kenntnisse, seine Umsicht, Arbeitskraft und Vielseitigkeit seien staunenswert; es wäre geradezu kolossal, was der Mensch leisten könne, und kein Wunder, daß Onkel Hofmann ihn seine „rechte Hand“ genannt habe! Er, Cecil, würde nicht wissen, was ohne ihn anfangen, Harnack führe ihn überall ein, sei stets orientiert und genieße Respekt bei den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0550.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2020)