Seite:Die Gartenlaube (1898) 0554.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

sie haben eine bedeutende industrielle Zukunft vor sich. Dein Vetter Cecil Whitemore wäre, im Fall meines frühen Todes, der Mann dazu, meiner Schöpfung diese Zukunft zu sichern, er besitzt die notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnisse, den Ueberblick und die erforderliche Energie. Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun. Ich habe jetzt, nach meiner soeben erfolgten Rückkehr von London, ein Kodizill zu meinem Testament, das ich bereits vor langen Jahren, gleich nach dem Tode Deiner Mutter, abgefaßt hatte, aufgesetzt, das diesem meinem ausgesprochenen Wunsch und Willen einen ganz besonderen Nachdruck verleiht. Mein Wunsch und Wille ist es, Du möchtest mit Deinem Vetter Mr. William John Cecil Whitemore die Ehe eingehen und dadurch eine solide und sachkundige Fortführung der von mir gegründeten Werke gewährleisten. Solltest Du Dich, was ich nicht annehmen will, diesem meinem nachdrücklich betonten Willen widersetzen, so würde ein Teil Deines Erbes, und zwar der nicht unerhebliche der Schneidemühle am Fluß, samt seinen Einkünften an Deinen Vetter fallen; sollte er sich anderweitig oder gar nicht vermählen wollen, so bliebe Dir der Gesamtbesitz – aber auch in diesem Fall ihm in erster Linie vorbehalten, einen geeigneten Verwalter des Unternehmens zu suchen und einzusetzen. Alle näheren Bestimmungen hierüber sind in dem Kodizill aufgezeichnet, welches Justizrat Ueberweg in Verwahrung hat. Ich hoffe, meine Tochter Alexandra wird diese meine väterlichen Bestimmungen gutheißen und sich ihnen fügen. Alfred Joseph Freiherr von Hofmann.“ 

Mit einem Gefühl hoffnungsloser Traurigkeit ließ das junge Mädchen den Brief sinken.

Es war zunächst nicht einmal der ihre Person berührende Inhalt, der dies Gefühl über sie kommen ließ, als friere es sie bis ins Herz hinein. Ihre Zukunft, mein Gott! Sie hatte natürlich für sich an Liebe und Ehe gedacht, aber immer als an etwas Fernliegendes. Es würde, es mußte kommen, aber es hatte ja noch Zeit damit. Einundzwanzig Jahre! Da konnte sie sicher noch warten.

Jetzt griff ihr toter Vater über sein Grab hinaus und führte ihr den Gatten zu! Daß er es that, war weiter nicht verwunderlich – sie war jung, stand allein da im Leben, ohne Erfahrungen, ohne Geschäftskenntnisse, sollte die Herrin eines so großen, weitverzweigten Besitztums werden und fühlte sich, wie sie da war, dieser Aufgabe nicht gewachsen. Aber wie er, der Vater, in ihre Zukunft hinübergriff – das, das war’s, was ihr dies schauernde Kältegefühl erweckte! Kein Bangen um sie, keine Frage, wie ihr Herz sprechen könne, ob es bereits gesprochen habe – keine väterliche Fürsorge, ob die beiden Menschen, die sich für das ganze Leben verbinden sollten, auch innerlich zu einander stimmten, ob sie es würden lernen können, eines des andern Herz zu finden .... nichts – nichts von alledem! „Gegen seine Persönlichkeit kannst Du nichts einzuwenden haben, ebensowenig wird er dies der Deinigen gegenüber thun!“ – Das war alles! Daraufhin sollten zwei Menschen einen Bund schließen, der sie unauflöslich aneinander knüpfte! Ihm, der diesen Wunsch ausgesprochen, paßte es so in seine Berechnungen, darum hatte es zu geschehen, und die beiden Beteiligten sollten sich fügen und mochten sehen, wie sie zusammen fertig würden. Die Kolonie Josephsthal, die war ihrem Besitzer alles gewesen – die Menschen, und wäre auch sein einziges Kind unter ihnen, bedeuteten ihm nichts als Ziffern, die in diesem Hauptkonto seines Lebens ihre Stelle einzunehmen hatten!

Ob Cecil den Inhalt dieses Briefes kannte oder erraten hatte? Er hatte um ihn gewußt – kein Zweifel! Woher sonst seine ungewöhnliche Verlegenheit – sein Stocken, während er sprach – sein beständiges Niederblicken? Gewiß hatte sich für ihn ein ähnlicher Brief unter den nachgelassenen Papieren gefunden und nun sollten sie täglich miteinander verkehren, und unausgesprochen sollte der Wunsch des Verstorbenen zwischen ihnen schweben und ihnen die Unbefangenheit nehmen, die ihnen bisher einen so angenehmen Verkehr ermöglicht hatte!

Nun, das Trauerjahr war lang, und bis es verrann, konnte vieles geschehen; nur das Eine konnte Alix sich nicht denken: daß es ihr nämlich je geschehen könnte, ihren Vetter Cecil Whitemore zu lieben!


9.

Françoise blickte ihrer jungen Herrin nach, vom Fenster ihres Zimmers her, wie sie leichtfüßig und rasch durch den mit Schnee überstäubten Park schritt.

Sie hatte ihre alte Getreue wieder nicht mitnehmen wollen, zu deren stiller Genugthuung freilich auch nicht die neu engagierte Gesellschaftsdame, diese imposante Frau Majorin! Aber was war denn mit dem „Kinde“ geschehen, daß es so viel allein sein wollte? That das alles ihres Vaters plötzlicher Tod? Nicht anzunehmen – monsieur war kein solcher Vater gewesen, den man aus tiefster Seele betrauern konnte. Himmel, welch ein lustiges Leben war das in Frankfurt gewesen! Beständig Tanz und Vergnügen, Bälle, Reitfeste, im Sommer die schönsten Land- und Wasserpartien – ach, und Alexandras Zimmer stets voll hübscher, junger Mädchen … und das plauderte und lachte und naschte Erfrischungen und neckte einander, es war eine Lust! Jetzt saß ihr Liebling und rechnete, hielt den Kopf aufgestützt, konferierte mit Mr. Whitemore und sah so ernst aus den großen Blauaugen, als gäbe es gar keine Jugend und Fröhlichkeit mehr in der Welt. Wozu das alles? Vor ihr lag doch das schönste, bequemste Leben, warum mühte sie sich denn so ab? Würde man lange, würde man gar für immer in diesem Josephsthal bleiben müssen? Der lebensfrohen Französin schlug das Herz vor Schrecken bis in den Hals hinauf bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit! Natürlich, das Trauerjahr hindurch würde man wohl hier festsitzen müssen! Dazu die Herren vom Gericht, die immer noch von Zeit zu Zeit erschienen, um die Beamten, die Arbeiter zu verhören, in den Papieren zu stöbern, die geringfügigsten Details hervorzusuchen – und es half ihnen alles nichts! Sie bekamen nichts heraus, und – Françoise war davon überzeugt – sie würden auch nichts herausbekommen!

Wie eine junge Maienrose leuchtete Alexandras reizendes Gesicht aus den schwarzen Krepphüllen hervor. Ihr stand eben alles entzückend, und wie die knappe Jacke mit dem flockigen Pelzbesatz die schlanke Schönheit der Gestalt hervortreten ließ! Ach, daß es in diesem Josephsthal keinen gab, der das recht zu würdigen wußte, denn Mr. Whitemore, der seine schöne Cousine jeden Tag sah – Gott, das war auch so ein Mann, wie der verstorbene Monsieur Hofmann einer gewesen war. Dem gingen auch seine Rechnungen und Zahlen über alles! Wenn nur erst der Konzertflügel aus Frankfurt da sein würde und Alix Reitpferd! Wenn es erst Frühling wäre, wahrhaftiger Frühling – dann bekäme doch die Sache wenigstens ein etwas besseres Aussehen!

Freilich war heute früh noch Schnee gefallen, und der Park, durch den Alix jetzt so eilig schritt, sah aus wie mit Streuzucker überschüttet. Aber die Sonne wollte das nicht mehr dulden, sie lachte und strahlte und küßte die weiße Pracht so glühend, daß sie schmolz, zusehends schmolz. Von den Aesten träufelte es herunter wie Brillantengeriesel, das von bunten Lichtern funkelt, Scharen von Spatzen lärmten und hüpften im kahlen Gezweig, die Büsche am Wegesrand neigten sich und streiften sacht die weißen Flöckchen herab. – – Alix trug Blumen aus den Treibhäusern in ihren Händen, damit wollte sie die Särge in der Kapelle schmücken. Nein, zu diesen Gängen wollte sie keine Begleitung haben – ein gleichgültiges Gespräch hätte sie nicht führen können, und die schweren Gedanken, die ihr hier kamen, mußte sie in sich allein verarbeiten. Ja, hätte sie Maria hier!

Als sie nach zehn Minuten wieder aus der Kapelle heraustrat, blieb sie unschlüssig stehen. Wohin? Gehen wollte sie noch, aber in der Kolonie hatte man sie noch nie allein gesehen – würde ihr Anblick nicht befremden? Mochte er es! Alix warf den Kopf hoch – sie hatte nie nach dem gefragt, was die Leute von ihr denken könnten.

Die breite Straße war wenig belebt um diese Zeit. Die Frauen bereiteten daheim das Mittagsessen, die Männer arbeiteten noch. Dann und wann trippelte ein verspätetes Schulkind, Tafel und Hefte unter dem Arm, über die leicht verschneite Straße und vergaß, über allem Bestaunen der schönen Dame mit dem kostbaren Pelzwerk und dem langen schwarzen Trauerschleier, sie zu grüßen. Aus allen Schornsteinen kräuselte sich blaues Gewölk aufwärts in die reine Luft. Der Postbote kam eiligen Schrittes daher und grüßte militärisch: hinter den Einzäunungen, welche die kleinen Vorgärten von der Straße abgrenzten, bellte dann und wann

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0554.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2022)