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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

dieser Sache nicht derartig in Anspruch nehmen, daß Sie Ihre Zeit einbüßen und zudem Gefahr laufen, sich in der noch immer herben Luft eine Erkältung zu holen.“

„Ich habe augenblicklich freie Zeit und neige nicht leicht zu Erkältungen!“ Alix sagte dies mit einer Miene und Haltung, die Professor Laurentius scherzend als ihre „königliche Manier“ zu bezeichnen pflegte. Es lag etwas Unpersönliches darin, das Gefühl, daß sie über den Menschen und Dingen, mit denen sie sich gerade beschäftigte, stehe. Ihr Interesse, ihre Teilnahme war sichtbar, aber beides war rein sachlich vorhanden, und ein einigermaßen guter Beobachter konnte deutlich genug wahrnehmen, daß er selbst und seine Person hierbei ganz aus dem Spiel blieben.

Ein solcher Beobachter war offenbar der junge Mann, der jetzt mit einer höflichen Verbeugung sagte: „Wenn sich Baroneß meine Begleitung gefallen ließen –“

„Gewiß! Gehen wir zum Schloß zurück!“

Hagedorn führte mit der linken Hand sein Zweirad an der Lenkstange neben sich her, und Alix ging zu seiner Rechten. Sie schwiegen eine kleine Weile. Des Mannes Blick hing bewundernd an dem schlanken, schönen Mädchen, das ihm jetzt, in solcher Nähe, noch weit anmutiger erschien als damals während der Leichenfeier.

„Sie wollten mir etwas sagen!“ brach Alix zuerst das Schweigen.

„Ich wollte – ja, aber es wird mir schwerer, als ich dachte. Wir sind einander doch ganz fremd – und ich muß fürchten, mich sofort bei dem gnädigen Fräulein in ein ungünstiges Licht zu setzen!“

Alix lächelte fast unmerklich.

„Wäre das die unausbleibliche Folge Ihrer Mitteilung?“

„Ich fürchte, ja! Eine Indiskretion bleibt immer etwas Unsympathisches, selbst wenn sie als Selbsthilfe zu entschuldigen wäre.“

„Und einer Indiskretion müssen Sie sich schuldig machen?“

„Ich werde nicht anders können – es sei denn, ich ließe Baroneß in dem Glauben, ich wäre ein Mensch ohne Takt und Manier und wüßte nicht, was ich der Tochter meines soeben verstorbenen Chefs, der Verwandten meiner Mutter, schuldig bin!“

Alix sah mit einem nachdenklichen Blick an ihm in die Höhe.

„Ich pflege mir nicht so ohne weiteres günstige oder abfällige Meinungen über jemand zu bilden; aber daß ich mich über Ihr Nichterscheinen gewundert habe, gestehe ich offen ein.“

„Sehen Sie!“ rief ihr Begleiter lebhaft. „Und es liegt ja auch so nahe, das zu thun! Darf ich nun nach etwas fragen?“

„Bitte!“

„Hat man – ich möchte nicht gern einen Namen nennen! – hat man Ihnen, Baroneß, nicht angekündigt, ich sei aus meiner Stellung als Buchhalter bei der Dampfschneidemühle entlassen?“

„Sie gestatten, daß ich einen Irrtum aufkläre, in welchem Sie, und mit Ihnen zugleich vielleicht die übrigen Beamten meines verstorbenen Vaters, sich befinden!“ sagte das junge Mädchen ernst. „‚Man‘ hat mir dergleichen nicht ohne weiteres anzukündigen, ‚man‘ hat überhaupt kein Recht, auch nur einen der geringsten Arbeiter, geschweige denn einen Beamten der Kolonie Josephsthal, anzustellen oder zu entlassen. Dies ist einzig meine Befugnis und niemandes sonst. Bin ich auch noch ohne jede Fachkenntnisse und sind mir auch die Herren, aus denen sich das Beamtenpersonal zusammensetzt, fremd, ihre Leistungen meinem Urteil nicht zugänglich …. die alleinige Disposition über alles, was die Werke betrifft, liegt in meiner Hand, und so soll es bleiben!“

Hagedorn neigte das Haupt ein wenig gegen sie.

„Ich habe das nicht gewußt. Niemand hat es für gut befunden, mich über diesen Stand der Dinge aufzuklären, und ich hatte angenommen …. nun, einerlei! – Wie dem auch sei: das darf ich wohl mit Sicherheit annehmen, daß man der Tochter unseres Chefs, der nunmehrigen Besitzerin der Kolonie Josephsthal, meine Entlassung als Vorschlag unterbreitet, sogar als dringende Notwendigkeit dargestellt hat!“

„Ich kann nicht leugnen, daß dem so ist,“ entgegnete Alix kurz und fest.

„Natürlich! Ich war davon überzeugt. Und dies war der Grund, warum ich anscheinend eine nicht zu umgehende Höflichkeitspflicht außer acht gelassen habe. Wozu die Bekanntschaft einer Dame suchen, aus deren Gesichtskreis ich ohnehin binnen wenigen Wochen gerückt sein würde?“

„Sie wären auch nicht gekommen, wenn Sie gewußt hätten, daß ich in dieser Sie betreffenden Frage zu entscheiden habe?“

„In diesem Fall schon unter keiner Bedingung. Ich bitte, mich nicht mißverstehen und sich gütigst für eine Minute in meine Lage versetzen zu wollen! In welchem Licht könnte wohl ein Mensch dastehen, der da weiß: du gehst deines Postens verlustig! und der es dennoch unternimmt, dem neuen Chef des Hauses, der eine Dame und seine Verwandte ist, einen Besuch abzustatten? Doch nur in dem Licht eines Bittstellers, der die Sache um jeden Preis redressieren möchte – – und – verzeihen Baroneß meine Aufrichtigkeit: in dem Licht habe ich mich Ihnen nicht zeigen wollen!“

„Ich kann es mir denken und kann es Ihnen nachfühlen!“ nickte Alix. „Aber es hätte ja nur bei Ihnen gestanden, diesem – diesem ‚Licht‘ eine andere Nuance zu geben: die der Aufklärung!“

„Konnte ich wissen, ob Sie solche nicht schon zur Genüge von der andern Seite empfangen hatten? Ob Sie nicht schon ganz mit sich einig waren, den untauglichen Beamten möglichst rasch und auf möglichst glatte Manier los zu werden? Und eins noch: Anklage gegen Anklage zu setzen, wie es hier ganz unausbleiblich der Fall hätte sein müssen – – – das ist mir nie im Leben als ein besonders schöner Weg erschienen, und ich würde ihn nur dann betreten, wenn das eiserne Muß mich dazu zwänge!“

„Verstehe ich Sie recht,“ sagte Alix nach einer kurzen Pause, „hat – hat – man – ich nenne ebenfalls keinen Namen – Ihnen Ihre Stellung als Buchhalter bereits definitiv gekündigt?“

„Definitiv wohl nicht, aber provisorisch, mit dem Zusatz, die formelle Kündigung würde nicht lange auf sich warten lassen, sie dürfte schon in den allernächsten Tagen erfolgen. Daraufhin wurde mir ein Teil der mir obliegenden Pflichten bereits abgenommen, weshalb mir mehr freie Zeit als sonst bleibt – Beweis mein heutiges Radfahren um eine Stunde, die ich sonst auf dem Comptoir am Pult zuzubringen pflegte.“

Die geradegezogenen dunklen Brauen des Mädchens rückten nahe zusammen. „Diese sogenannte Kündigung war Ihnen doch nicht etwa in meinem Namen zugegangen?“

„Nein – sondern im Namen desjenigen, der sie aussprach, und zwar in einer Form und in einem Ton aussprach, daß ich mich hinreißen ließ … aber ich möchte dies nicht nochmals thun, und es begegnet mir sehr leicht, wenn mein Blut in Wallung kommt. Dort haben wir das Schloß, Baroneß! Wie mir scheint, wird am Portal etwas abgeladen –“

Er hatte an den Hut gegriffen und schien sich verabschieden zu wollen. Aber Alix beachtete das nicht. Sie hatte einen halblauten Ruf der Ueberraschung, einer freudigen Ueberraschung ausgestoßen und beeilte sich nun, vorwärts zu kommen, um besser sehen zu können. Acht Männer waren beschäftigt, ein großes, sorgsam in Matten gewickeltes Frachtstück von dem flachen, breiten Wagen, der am Fuß der Freitreppe stand, herunterzuheben und ins Schloß zu bringen. Auf einer der obersten Stufen der breiten gußeisernen Treppe stand die Majorin von Sperber, sorglich in ihren Wintermantel gehüllt, und überwachte den Transport mit sichtlichem Eifer.

„Mein Flügel ist da, nicht wahr?“ rief Alix mit heller Stimme hinauf.

„Ja, er ist eben gekommen, gottlob! Wie ich mich freue!“ Und die würdige Dame kam wie das jüngste Mädchen die Treppe heruntergelaufen.

„Baroneß sind auch musikalisch?“ fragte Raimund Hagedorn, augenblicklich so lebhaft interessiert, daß er seinen beabsichtigten Weggang ganz vergaß und hastig näher herzutrat.

„Ich spiele gern Klavier. Wie schön, daß ich mein Piano wieder habe! Es ist, als wenn man einen lieben Freund begrüßt!“

„Noch dazu einen Freund, der nie Launen hat, nie untreu wird, nie wechselt!“ Des Mannes Augen leuchteten auf in feurigem Blau, wie er die hantierenden Leute überblickte. Es schien ihm in den Händen zu zucken, als ob er am liebsten geholfen hätte, das Instrument seiner Bestimmung zuzuführen.

„Herr Hagedorn – Frau Major von Sperber, meine mütterliche Freundin!“ stellte Alix eilig vor; sie war gleichfalls ganz bei der Sache, ging um den Wagen herum und wieder zurück und nickte den Arbeitern aufmunternd zu: „Sie werden sehr vorsichtig sein, nicht wahr?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0556.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2022)