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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

‚Reisen Sie ab!‘ sagte ich ohne jeden Umschweif, in fast unhöflichem Ton.

Sie legte den Kopf an die Lehne ihres Sessels zurück und sah zu mir in die Höhe.

‚Wollen Sie mich los sein?‘

‚Ja!‘ sagte ich kurz.

Sie nahm eine gekränkte unschuldige Miene an, die ihr, wie alles, zu Gebot stand.

,Aber ich störe Sie doch nicht,‘ sagte sie halblaut.

‚Mich?‘ frug ich kalt und erstaunt, ,mich? nein – durchaus nicht – aber Sie stören hier doch, ja noch mehr – Sie zerstören! Verlangen Sie wirklich, daß ich Ihnen sagen soll, warum ich Sie ‚los sein‘ will, wie Sie es ausdrücken?‘

Sie lachte ihr leises, gefährliches Lachen – ihre kleinen weißen Zähne blitzten im Mondschein.

‚Sagen Sie es nur!‘

‚Nun, Sie zerreißen, Sie vernichten und verderben mit größter Seelenruhe und bei kältestem Blut das Glück und den Frieden von zwei Menschen, die ich lieb habe – und weshalb? Wollen Sie denn für sich selbst etwas damit? Nicht einmal das – nur als elendesten Zeitvertreib!‘

Sie sah wie ein gescholtenes Kind zu mir auf.

‚Aber was soll man denn im Herbst an der See machen?‘ frug sie in kläglichem Ton.

Ich hatte mich in einen Zorn hineingeredet, der mir selber über dem Kopf zusammenschlug, und ein unklares, mich empörendes Gefühl mengte sich darein, daß sie in diesem Augenblick alles dransetzte, mich auch um den Verstand zu bringen.

Ich war drauf und dran, mich in dieser Empfindung zu vergessen und heftiger zu werden, als es einer Dame gegenüber anging – ich trat hart mit dem Fuß vor ihr auf.

‚Reisen Sie!‘ sagte ich heftig, ‚ich bitte Sie!‘

Sie stand auf und sah mich mit einem ernsthaften, durchdringenden, unerklärlichen Blicke an, trat auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Arm.

‚Gut,‘ sagte sie dann, ‚ich werde reisen! Nicht, weil ich will, aber weil Sie mich darum bitten!‘

Ich schüttelte ihre Hand ab, trat an die Glasthür und sah auf die See hinaus; ‚was ist man doch für ein Jammergeschöpf!‘ dachte ich in mich hinein.

Ihr war meine Erregung nicht entgangen, in ihren Augen sprühte es von Triumph und Mutwillen.

‚Weil Sie mich darum bitten!‘ wiederholte sie, ‚es macht mir Spaß, daß Sie mich bitten. Sie können mich im Grunde nicht leiden – ich bin nicht Ihr Genre – das weiß ich.‘

‚Nein, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte ich mit tiefem Ernst.

Sie schwieg eine ganze Weile und sah vor sich nieder. Sie war blaß und die langen, dunklen Wimpern lagen wie schwere Schatten über dem ausdrucksvollen Gesicht.

‚Also ich reise!‘ sagte sie dann. ‚Morgen – in aller Frühe schon! Sie wissen, ein Scheidender und ein Sterbender darf manches sagen. Sie haben mich in dieser Sache beeinflußt – Sie hätten es in mancher andern auch gekonnt. Und nun gehen Sie – fort – in diesem Augenblick!‘

Sie streckte die Hand gebieterisch nach der Thür aus und ich ging wie betäubt von dumpfer Verwunderung und immer im Bann desselben unklaren Gefühles, das mich während der ganzen letzten Stunden gepeinigt hatte.

Ich schritt am Strand entlang nach Hause – das Wetter hatte sich geändert und die Flut kam finster und grollend näher – so allmählich – so sicher – so unentrinnbar wie die Zeit – wie das Alter – wie das Schicksal! Ich stand eine ganze Zeit stumm und verworren und starrte ins dunkle Wasser – mir ging ein alter Vers durch den Sinn, wie solch ein poetisches Spinngewebe sich plötzlich an den Menschen hängen kann:

,Du bist so mild wie Sternenschein,
Wie das Meer so schwarz und blaß –
Mein Herz, mein ganzes Herz ist dein –
Doch auch mein ganzer Haß!‘

Ich kannte mich selbst nicht wieder an dem Abend, aber ich fühlte eine innere Befreiung – auch meinetwegen! – in dem Gedanken: ‚Sie geht fort!‘

Als ich im Seeschloß noch Licht brennen sah, ging ich eilig darauf zu. Ich sah Annie am Fenster stehn und hinausblicken – ihr liebes ernstes Gesicht war mir wie ein Talisman in dieser Stunde – ich fühlte, daß in ihr sich alles verkörperte, was für mich rein und gut und heilig war – und ich hatte mich wiedergefunden! Auf ein Zeichen von mir öffnete sie das Fenster – ich rief halblaut hinauf: ‚Sie reist morgen ab!‘

‚Das haben Sie gethan!‘ sagte sie und wandte mir ihr blasses, strahlendes Gesicht zu, ,ich danke Ihnen – vielleicht ist’s noch Zeit!‘

Ich ging nach Hause.

Allan schlief schon; er war jetzt immer so leicht ermüdet – und in der grauen Morgenfrühe weckte mich Räderrollen draußen auf den Klinkern – Sinaide hatte mir Wort gehalten.


Es war mir fast lieb, daß ich Allan am nächsten Morgen in einem leichten Fieber fand, welches mir das Recht und die Pflicht gab, ihn einen oder zwei Tage ans Zimmer zu fesseln und ihm in diesem Zustand so ganz leise und allmählich die Nachricht beizubringen, daß Sinaide fort sei.

Er nahm sie verhältnismäßig ruhiger auf, als ich erwartet hatte – es war, wie wenn er mit seiner Leistungs- und Ertragfähigkeit am Ende gewesen wäre und es jetzt förmlich wie ein Aufatmen empfände, nicht beständig in fliegender Erregung und Erwartung zu sein.

So begann für uns alle eine ruhigere Zeit, in der wir erst so recht empfanden, in welchem heißen Sturme wir gelebt hatten.

Annie war in ihrer stillen Weise um Allan besorgt wie eine Mutter um ihr schwerkrankes Kind; sie suchte ihn zu erheitern, zu zerstreuen oder zu beruhigen, je nachdem seine wechselnde Gemütsstimmung es verlangte. Und er – nicht mehr abgezogen von der beständigen, täglichen, stündlichen Erwartung und Quälerei – ,Kommt sie heut’? Bleibt sie heut’ aus?‘ – die ihn wie im Fieber von Stunde zu Stunde umgetrieben hatte, lebte allmählich auf und begann, seiner elastischen Natur getreu, sich auch äußerlich zu erholen.

Daß er das selbst empfand, und als Wohlthat empfand, ging mir daraus hervor, daß er in diesen Tagen einmal zu mir sagte: ,Weißt du, Rütgers, es wundert mich, daß noch nie jemand darauf gekommen ist, der Zeit Altäre zu bauen: sie ist doch die einzige, unsichtbare Macht, die fühlbares Erbarmen mit den Menschen hat!‘ – und ich hoffte, daß er recht behalten sollte.

Wir gingen jeder Berührung mit dem Hause des Generals aus dem Wege, und der alte Herr selbst verhalf uns dazu; er hatte die unerwartet schnelle Abreise seiner Enkelin mit Recht auf mein Conto geschrieben und mir sehr verübelt – er grüßte nur steif und kühl, wenn er einen von unserer kleinen Gesellschaft traf, und sprach mit mir nur noch das ärztlich Notwendige.

Ich machte mir weiter keine Gedanken darüber, da er mir in seiner Art und Anschauungsweise doch fremd geblieben war und immer bleiben mußte, und ich war im Grunde auch froh, nichts mehr von Sinaide zu hören – hatte ich doch an mir selbst erfahren, wie weit die Macht ging, die dieses seltsame Geschöpf ausübte, sowie sie es wollte.

Allan begann in der Zeit wieder zu malen; er lag täglich mit dem Skizzenbuch an der See und entwarf kleine wilde Stimmungsbilder, die von merkwürdiger Genialität waren. Diese Thätigkeit machte ihm Freude und griff ihn anscheinend nicht an – so ließ ich ihn dabei.

Eines Tages hatte er Annie gebeten, ihm zu einer Porträtskizze zu sitzen, wie in früheren guten Zeiten.

Ich war zufällig anwesend – wir saßen auf der Terrasse des Seeschlosses. Es war ein stiller, windloser Tag, man konnte im Freien sein. Wir plauderten alle drei, und er zeichnete. Zuerst blickte er alle Augenblicke scharf und prüfend auf sein Modell – dann immer seltener – mit der Zeit sah er gar nicht mehr auf, sondern zeichnete immer weiter mit einem seltsamen, vertieften Ausdruck im Gesicht.

Als es gar zu lange währte, stand Annie leise auf und trat hinter ihn, um ihm über die Schulter zu sehen.

,So sehe ich aber eigentlich nicht aus,‘ sagte sie anscheinend heiter – als ich nach ihr aufblickte, standen ihre Augen voll Thränen. Ich wußte wohl, wen er gezeichnet hatte!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0570.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)