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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Darüber verging wieder eine Woche. Am nächsten Sonntag widerstand ich leicht der Versuchung, zu sehen, ob die beiden Freundinnen ihren freien Ausgang wieder nach Dausenau richten und den Blinden abermals begrüßen würden. Die Sonnenglut hielt mich bis an den Abend im Zimmer fest. Ueber Nacht ging dann ein mächtiges Gewitter nieder, das sich in einen Landregen auflöste, der auch tagüber noch anhielt. Ich beschloß, einmal wieder den Malberg hinaufzufahren, da ich hoffen durfte, die schönen Waldwege droben, die sonst durch geputzte Menschen unsicher gemacht wurden, heute einmal für mich allein zu haben.

So fand ich es auch, als ich droben dem fast leeren Wagen der Drahtseilbahn entstieg. Auch vor dem Restaurationshause saßen, da es noch immer leise vom Himmel herabrieselte, nur ein paar verlorene Stammgäste, die unter Regenschirmen sich an ihrem Nachmittagskaffee und der feuchten Kühle der Luft erquickten. Ich ging an ihnen vorüber und schlug den oberen Weg nach dem Lahnsteiner Forsthause ein, das in einer guten halben Stunde zu erreichen ist.

Es war herrlich, in der helldunklen Luft unter den himmelhohen Wipfeln des Fichtenwaldes hinzuwandern, in einer so tiefen Stille, daß man das Aufatmen der Natur nach der langen Schwüle zu belauschen meinte. Auch die Musik des Regens verklang kaum hörbar hoch oben in den Lüften, da die sanfte Flut in den dichten Kronen der Bäume sich zerteilte und durch das Astwerk nur ein zarter feuchter Staub herabsprühte. Ich hatte meinen Schirm zusammengefaltet und den Hut abgenommen, um die Stirn der erfrischenden Kühle preiszugeben; so ging ich gedankenlos eine gute Weile vor mich hin, froh, endlich die langentbehrte Waldeinsamkeit zu genießen, als ich eine weibliche Gestalt bemerkte, schon ziemlich nahe herangekommen, die ihrerseits mich zu erkennen schien, da sie stehen blieb, wie unschlüssig, ob sie an mir vorübergehen oder nach der Seite ausweichen sollte.

Ich hatte sie aber, obwohl sie unter dem kleinen Schirm das Gesicht zu verbergen suchte, sofort erkannt und mich ihr mit ein paar großen Schritten so rasch genähert, daß sie mir wohl oder übel standhalten mußte.

„Guten Tag, Fräulein Rikchen!“ sagte ich. „Sie sehen, niemand entgeht seinem Schicksal. Hier habe ich Ihnen freilich keine Rosen anzubieten, vor denen Sie wieder davonlaufen möchten. Aber wenn Sie mir auch deutlich zu erkennen gegeben haben, daß Sie nichts von mir wissen wollen, ich will etwas von Ihnen wissen: gar nichts von Ihren etwaigen Geheimnissen, sondern nur, warum Sie und Ihre Freundin erst so freundlich zu mir waren und mich dann plötzlich stehen ließen, als ob ich Ihnen Gott weiß was zuleide gethan hätte.“

Sie hatte bei meiner Anrede, da sie sah, daß doch kein Entrinnen war, das Schirmchen geschultert und mir ihr munteres Gesicht voll zugekehrt. Ein kleines geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren halbgeöffneten Mund.

„Nicht wahr?“ sagte sie endlich – sie sprach ein ziemlich reines Hochdeutsch, nur zuweilen mit einem rheinländischen Anflug – „wir sind Ihnen wie zwei recht dumme Gäns’ vorgekommen, und das Weglaufen war auch kindisch. Aber sie bestand darauf, das Lischen, und ich mußt’ ihr den Willen thun, obwohl ich mir gern eine schöne Rose von Ihnen hätte schenken lassen. Ich sah’s Ihnen ja an, daß Sie ein braver Herr sind und sich bloß für unser bißchen Singen revanchieren wollten. Aber wie gesagt, das Lischen ist so wunderlich. Sie müssen wissen, sie war einmal verlobt, die Sach’ ist zurückgegangen, sie will’s aber immer noch nicht glauben und betrachtet sich trotz alledem als Braut, und da meint sie, sie dürf’ sich von keinem andern Mann Rosen schenken lassen. Gelt, es ist eine Dummheit, aber so ein arm’s Mädche, das so viel ausgestanden hat – kein Wunder, wenn’s ihr im Kopf nicht ganz richtig ist!

„Das heißt, in allem andern hat sie ihre gesunden fünf Sinne beisammen, nur daß sie nicht viel sprechen mag, und es ist jammerschad’, daß sie sich in das eine so verrannt hat, und wenn man bedenkt, um wen! Aber ich darf nicht mehr davon schwätzen, ich bin ihre beste Freundin schon von der Schule her, und es wissen in der Stadt ohnehin schon zu viele darum, obwohl es keine öffentliche Verlobung war. Sie werden ja auch keinen Gebrauch davon machen.“

„Gewiß nicht, Fräulein Rikchen,“ versetzte ich. „Dann sollten Sie aber Ihre Freundin darauf aufmerksam machen, daß sie sich sehr unklug beträgt und selbst verrät, was die Leute nicht wissen sollen. Jeden Morgen sich dem Ungetreuen gegenüberzusetzen und ihn anzuschmachten wie ein Gnadenbild in einer Wallfahrtskirche – man braucht kein Talent zum Polizeispion zu haben, um zu wissen, was es damit für eine Bewandtnis hat.“

Das Mädchen nickte lebhaft mit dem Kopf und zog die Brauen zusammen.

„Also haben Sie’s auch bemerkt!“ rief sie sehr aufgeregt. „Und Sie werden nicht der einzige sein. ’s ist eine Schand’, hab’ ich ihr mehr als einmal gepredigt, wie du dich aufführst! Einem falschen Menschen nachzulaufen, einem solchen, wie der – oder finden Sie ihn etwa auch so reizend wie viele verrückte Weiber, diesen – diesen – –“

Sie suchte umsonst nach einem Ausdruck, der stark genug wäre für ihre sittliche Entrüstung und ihren ästhetischen Widerwillen.

„Nun,“ sagte ich, „ich kenne nur sein Aeußeres, das von der Sorte ist, die auch mir mißfällt. Aber ich habe oft erlebt, daß so eine blanke Larve, ein schön frisierter Puppenkopf bei dem anderen Geschlecht Glück macht. Nur daß er gerade Ihrer Freundin gefährlich werden konnte –“

„O, Sie wissen nicht, welche Künste der listige Mensch angewendet hat, um sich in Lischens Herz einzuschmeicheln. Denn anfangs war er ihr grad’ so zuwider wie mir. Und sie hatte es auch nicht nötig, sich an den ersten besten wegzuwerfen, an jedem Finger hätte sie einen haben können, darunter die besten Partien. Jetzt freilich sehen Sie’s ihr nicht mehr an, was für ein Bild von Schönheit sie gewesen ist; keine in der ganzen Stadt konnt’s mit ihr aufnehmen. Aber sie hatte noch gar keine Lust zum Heiraten. Sie war zwar arm, aber wenn sie wollte, konnt’ es ihr an einer guten Versorgung nicht fehlen, und sie wollte warten, bis sie sich ihre Aussteuer zusammengespart hätte. Damit war auch ihr Vater einverstanden – die Mutter lebt schon lange nicht mehr. Der Papa aber, der auch nur sein schmales Auskommen hatte als Schreiber beim Gericht, dies einzige Kind, das Lischen, liebte er wie seinen Augapfel; was sie wollte, das war ihm recht. ,Sie hat mehr Verstand in ihrem kleinen Finger als ich in meinem ganzen dicken Schädel!“ sagte er mir einmal. So ließ er sie auch thun und treiben, was sie wollte, und fand es sehr in der Ordnung, daß sie während der Saison als Verkäuferin in ein Geschäft ging, eine Handlung mit Achatwaren und unechten Schmucksachen. Im Winter klöppelte sie Spitzen. Sie hatte zu allem Geschick und war dabei die gute Stunde selbst und ging auch wohl einmal zum Tanz, hielt sich aber immer ganz anständig und ehrbar.

„Nun, so war sie in ihr zwanzigstes Jahr gekommen, da machte sie auf der Hochzeit einer Gefreundeten seine Bekanntschaft, ich meine, die des geigenden Rattenfängers. Auch eine Muhme von mir war dabei, die, von der ich eben herkomme, die Tochter der Förstersleute. Sie ist schwer krank gewesen und kaum aus der Gefahr, und um mich einmal nach ihr umzusehen, habe ich mir heut’ einen freien Nachmittag ausgebeten, sonst wäre ich Ihnen hier oben nicht begegnet und hätte Ihnen nicht so viel vorgeschwatzt. Jetzt aber muß ich Ihnen Adieu sagen, ich soll vor Abend wieder am Brunnen sein.“

„Ich will Sie nicht länger aufhalten, Fräulein Rikchen,“ sagte ich, während wir schon wieder den Rückweg antraten. „Erlauben Sie mir nur, Sie noch ein Streckchen zu begleiten. Sie müssen mir noch ein wenig mehr von Ihrer Freundin erzählen, deren Schicksal mich sehr interessiert. Ein so gutes, unschuldiges Wesen, das Mitleid mit unglücklichen Menschen hat und durch einen gewissenlosen Gecken nun selbst unglücklich geworden ist! Andere werden dadurch verhärtet. Ihr Herz ist aber so weich geblieben, daß sie sich nicht damit begnügt, einem blinden Bettler ein Almosen in den Hut zu werfen, sondern ihn freundlich anredet und ihm sogar die Hand küßt.“

Das Mädchen blieb plötzlich stehen und sah mich mit einem Ausdruck des Erschreckens an.

„Woher wissen Sie das?“ sagte sie. „Wer hat Ihnen – Aber freilich, Sie kamen ja hinter uns her am Sonntag vor acht Tagen. Wenn Lischen das erführe – sie wäre außer sich. Denn die Leute in Ems wissen freilich, daß der arme alte Mann,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0598.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)