Seite:Die Gartenlaube (1898) 0599.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wenn es nach seiner Tochter ginge, nicht da am Wege stände und die Fremden anbettelte, aber was die Kurgesellschaft davon denken müßte –“

„Nein, sagen Sie,“ unterbrach ich ihre bestürzte Rede, „ist es möglich? Der Blinde von Dausenau –

„Gewiß,“ nickte sie, „’s ist dem Lischen ihr armer Papa. Und da Sie nun doch dahintergekommen sind – wir wollen uns einen Augenblick auf die Bank da setzen. Es hat mir ganz den Atem benommen, daß Sie uns damals belauscht haben. Nur um Gottes willen kein Wort davon an meine Freundin!“

Sie setzte sich rasch auf das vom Regen durchtränkte Bänkchen, ohne ihr Kleid zu schonen, und ich ließ mich neben ihr nieder. „Ja,“ fing sie wieder an, „ich hab’ einmal gelesen: es geht nirgends wunderlicher zu als in der Welt. Das ist ein wahres Wort. Wenn Sie den Herrn Gerichtssekretär früher gekannt hätten – ‚ärmlich aber reinlich!‘ pflegte er zu sagen und bürstete und striegelte an seinen abgetragenen Kleidern herum, daß alle Fäden zum Vorschein kamen. Und so hatte er auch seine Tochter erzogen. In ihrem Wohnstübchen oben im dritten Stock sah’s aus wie in einer Puppenstube. Und jetzt ist es ihm gleich, ob er wie ein landstreichender Strolch im Regen steht – was er freilich nicht mehr sehen kann. Denn Sie haben es wohl selbst bemerkt, hier oben“ – sie deutete auf die Stirn – „sieht’s auch nicht mehr so sauber und aufgeräumt aus wie vor dem Unglück. Obwohl er in manchen Stücken noch ganz zurechnungsfähig ist und ganz genau weiß, was er will, und setzt es durch gegen alle Welt, wenn’s auch noch so unvernünftig ist.

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß das Lischen seine einzige Lebensfreude war. ,Wenn ich nur den Tag noch erlebe, wo du einen guten Mann kriegst, der weiß, was er an dir hat‘ – hörte ich ihn mehr als einmal sagen. Auch hätte er sich nicht gewundert, wenn einmal ein Prinz oder Graf zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Herr Sekretär, ich habe die Ehre, um die Hand Ihres Fräulein Tochter bei Ihnen anzuhalten.‘ Und nun stellen Sie sich vor, wie ich erschrecken mußte, als das Lischen mir eines Abends ganz wie berauscht von Seligkeit um den Hals fiel und mir ins Ohr stammelte, der Geiger habe um sie geworben, und der Papa habe Ja gesagt.

,Bist du bei Trost, Lischen?‘ sagte ich. ,Der Papa hat eingewilligt, und du – du selber hast Ja gesagt? Du willst den ‚schönen Schorsch‘ – so nannten wir ihn unter uns – heiraten? Aber kennst du ihn denn nicht, was er für ein Hans Liederlich ist, und dennoch –‘

„Da wurde sie ganz ernst und fast feierlich. ,Ich verbitte mir solche Schimpfworte über meinen Bräutigam,‘ sagte sie. ,Sein Leben, bevor er mich kannte, geht mich nichts an. Er selbst hat mir gestanden, er habe viel zu bereuen, wenn er auch keine betrogene Unschuld auf dem Gewissen habe. Aber er habe freilich ein bißchen stark die Kur geschnitten, das werde nun aufhören, und mir werde er’s zu danken haben, wenn er jetzt als ein solider Ehemann sich die allgemeine Achtung erwerbe.‘ – Sie wissen, mit der Leimrute hat sich schon manches dumme Vögelchen fangen lassen. – ,Und das hast du ihm geglaubt, Lischen?‘ fragte ich. Da kehrte sie mir den Rücken zu und redete zwei Tage lang kein Wort mit mir.

„Ich war im stillen wütend auf den schönen Schorsch, das Lischen, ihren Papa und mich selbst, daß mir nichts einfallen wollte, meiner armen vernarrten Freundin den Star zu stechen und die ganze dumme Geschichte rückgängig zu machen. Ich hatte auch nicht das Herz, dem Papa meinen Glückwunsch zu bringen, und da die Verlobung noch nicht öffentlich gemacht war, konnte ich thun, als wüßte ich nichts davon. Als mir aber der Herr Sekretär ein paar Tage später auf der Straße begegnete, schämte ich mich doch, ihm auszuweichen, als Lischens älteste Freundin. Ich grüßte ihn also und sagte, ob es denn wahr wäre, das mit dem schönen Schorsch. Ich muß gestehen, ich könnt’s immer noch nicht glauben.

„Da wurde sein gutes altes Gesicht sehr ernsthaft, fast traurig, und er sah mit den kleinen entzündeten Aeugelchen – schon damals waren sie vom vielen Schreiben schwach geworden – so wie verlegen nach der Seite. ,Jch habe es selbst erst nicht glauben mögen,‘ sagte er. ,Aber ich bin ein schwacher Vater, und da mein Kind erklärt hat, sie werde sterben, wenn ich ihr nicht den Willen thäte – und übrigens, wenn’s auch keine glänzende Versorgung ist, er hat doch sein Auskommen, und ganz als Bettlerin laß ich sie ja auch nicht in die Ehe gehen, und daß er weiß, wir sind keine reichen Leute, und sagt, er sehe nicht auf das Geld, macht ihm doch immerhin Ehre. Wenn es der Himmel zu Lischens Glück so beschlossen hat – ich bin ein alter Mann und werde nicht ewig für sie arbeiten und sorgen können.’

„Das sprach er so vor sich hin, und ich hatte, obwohl er sich dabei zu beruhigen schien, nicht das Herz, ihm zuzustimmen und zu diesem sogenannten Glück zu gratulieren.

„Denn Sie müssen wissen, lieber Herr, ich traute dem Landfrieden nicht in betreff der uneigennützigen Verliebtheit des edlen Bräutigams. Das Lischen hatte eine Tante, eine Vatersschwester, die älter war als ihr Bruder, aber in besseren Verhältnissen lebte. Ein Weingutsbesitzer in Bacharach hatte sie geheiratet, den hatte sie schon vor zwanzig Jahren beerbt und seitdem das Ihre so gut zusammengehalten, zumal sie weder sich noch irgend einem Christenmenschen etwas gönnte, daß man sie auf ein paar Hunderttausend schätzte. Ihr Bruder hatte sich aber ihres Geizes wegen mit ihr zertragen und nahm ihren Namen nie in den Mund. Das Lischen aber konnte es nicht übers Herz bringen, die Tante Appele – wie sie nach ihrem Taufnamen Apollonia in der Familie kurzweg hieß – so ganz links liegen zu lassen, schrieb ihr jedes Jahr zu ihrem Namenstage und schickte ihr zu Weihnachten eine Handarbeit, worauf der Geizdrache sich nur mit einem Körbchen Trauben, nicht von den süßesten, revanchierte. ,Du wirst doch noch einmal eine reiche Erbin,‘ sagte ich ihr zuweilen im Spaß. ,Es ist mir wahrhaftig nicht um ihr Geld,‘ sagte sie darauf. ,Aber sie dauert mich, weil sie so einsam lebt und keine Menschenseele hat, auf ihre gebrechlichen alten Tage sie zu pflegen und aufzuheitern.‘

„Daß es ihr damit voller Ernst war und gar keine Erbschleicherei dahinter steckte – so wie ich meine Freundin kannte, war mir das keinen Augenblick zweifelhaft.

„Das aber ließ ich mir nicht ausreden, daß der schöne Schorsch auf Tante Appeles blanke Thaler spekulierte. Die schönen Augen der Braut mochten ihm wohl auch einleuchten als Zugabe. Aber wenn sie ihm wirklich nur das bißchen Aussteuer zugebracht hätte – man brauchte ihm bloß in das langweilige kalte Gesicht zu sehen, um zu wissen, wie es in seinem sogenannten Herzen aussah.

„Ich hütete mich aber wohl, gegen meine Freundin mir nur eine Andeutung über seinen Charakter entschlüpfen zu lassen. Hätte sie mich um Rat gefragt – ja dann! Aber wer sich selbst die Augen zubindet, um nicht zu sehen, was sonnenklar ist, wie soll man dem helfen?

„Und ich hatte sie auch zu lieb, um sie mir ganz abwendig zu machen. Ich ließ mich sogar bereden, einen Abend in ihre Wohnung zu kommen, wo der Bräutigam da sein sollte. Wir saßen erst um den Tisch herum, auf dem die kleine Lampe mit dem grünen Schirm stand, da der Papa ein helles Licht nicht vertragen konnte. Der hatte sich in den Winkel des alten Sofas gedrückt und sprach den ganzen Abend nicht zehn Worte, trank auch nur ein kleines Glas Wein, und von dem Kuchen und den Erdbeeren rührte er nichts an. Auch ich hatte einen gallebitteren Geschmack auf der Zunge, wenn ich zu dem Bräutigam hinübersah: er so schön frisiert und parfümiert, daß es mir übel machte, und sie, immer seine Hand unterm Tisch in der ihren, verwandte keinen Blick von ihm, während er fast allein das Wort führte. Er erzählte von seinem Musikantenleben, in welchen großen Städten und vor welchen hohen Herrschaften er schon gespielt hätte, immer als ob er dabei die Hauptperson gewesen wäre, da doch die zweite Geige immer nur so mitläuft, wenn ein anderer die erste spielt. Lischen aber war ganz Bewunderung, zumal wenn er von dem Zauber der Musik allerlei hochtrabende Redensarten zum besten gab und die größten Komponisten anführte, als wären sie seine Duzbrüder gewesen. Dabei brachte es mich förmlich auf, daß er niemals lachte oder auch nur lächelte, immer die gleiche unbewegliche, selbstgefällige Miene.

„Ich war froh, wie der Papa endlich um zehn Uhr aufstand, es sei nun Zeit auseinanderzugehen, er müsse seiner Augen wegen früh zu Bett. Lischen begleitete ihren Verlobten mit dem Licht die Treppe hinab. Es überlief mich siedigheiß, mir zu denken,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0599.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)