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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Das „Tänzelfest“ in Kaufbeuren.
Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der fünfknöpfige Turm und der Neptunsbrunnen in Kaufbeuren.


Die Zeiten sind glücklich vorüber, in welchen man auf Volks- und Jugendspiele mit Geringschätzung herabblickte und selbst die Polizei zu Hilfe rief, um die „ruhestörenden“ Aufzüge zu verbieten. Damals hat man viel gesündigt und manchen schönen Brauch für immer erstickt. Heute ist man zu der besseren Einsicht gekommen, daß Volksfeste, wenn nur Auswüchse bei ihnen verhütet werden, einen großen erzieherischen und moralischen Wert haben, und nun sucht man, die entschwundene Lust von neuem zu beleben, Volks- und Jugendspiele zu schaffen. Die Förderer dieser Bestrebungen können nur langsam und mühsam Erfolge erzielen, denn das Neue wird nicht mit einem Schlage volkstümlich. Unter diesen Umständen sollten wir mit verdoppeltem Eifer den noch vorhandenen Schatz an alten Volksspielen hüten und namentlich der Jugend die noch hier und dort üblichen Festspiele erhalten.

Vor allem sollte man auf die Kinderfeste seine Aufmerksamkeit richten; denn wo Kinder im festlichen Aufzug erscheinen, da stellen sich auch die Eltern und Erzieher und deren Freunde ein, und unmerklich erweitert sich ein Kinderfest zu einem wahren Volksfest. Und wenn solche Veranstaltungen auch nur einmal im Jahre stattfinden, so ist ihr Wert in erzieherischer Hinsicht doch groß; denn die Vorbereitungen zum Feste füllen Wochen aus. Sind dann die Kinderfeste mit Vorführungen, mit Märchen, Reigen, Ballspielen u. dgl. verbunden, so bieten sie Anlaß zur fleißigen Pflege leiblicher Uebungen, die in unserem nervösen Zeitalter so sehr erwünscht scheinen.

Es giebt in Deutschland noch eine Reihe von Städten, die den altüberlieferten Brauch nicht nur treu gehütet, sondern auch fortentwickelt und den Bedürfnissen der Neuzeit angepaßt haben. Zu ihnen zählt auch die malerisch an der Wertach gelegene Stadt Kaufbeuren im bayrischen Regierungsbezirk Schwaben.

Wer sich dem Orte von Buchloe her mit der Eisenbahn nähert, der gewinnt schon einen Einblick in die Reize der an dichtbewaldeten Hügeln reichen Landschaft, deren Hintergrund das Hochgebirge mit der Zugspitze, Hochplatte und dem Säuling geradezu großartig abschließt. Von der Stadt selbst winken aber allerlei wetteralte Zinnen herüber, denn Kaufbeuren, ehemals Freie Reichsstadt, ist noch zum Teil mit den festen Mauern und Türmen umgeben, die einst der Bürger Schutz und Wehr bildeten. Unter ihnen fällt der „fünfknöpfige Turm“ als ein originelles Bauwerk ganz besonders ins Auge. Betritt man die Straßen der etwa 8000 Einwohner beherbergenden Stadt, dann begegnet man so manchem ehrwürdigen Gebäude. Aus dem Jahre 1444 stammt die katholische Stadtpfarrkirche zu St. Martin, und die rundgetürmte St. Blasikirche mit einem sehenswerten gotischen Altar ist noch älter. An dem hübschen Neptunsbrunnen wandern wir vorüber und sehen neben den Zeugen einer glücklichen Vergangenheit weitere Bauten, welche die rüstig schaffende Bürgerschaft in der Neuzeit errichtet hat. Vor allem ist das schöne neue Rathaus zu nennen. Im Stil der Renaissance wurde es in den Jahren 1879 bis 1881 von Hauberisser erbaut und von Ludwig Herterich mit historischen Oelgemälden sowie von Lindenschmit mit Fresken verziert. Namentlich das Hauptbild von Lindenschmit im Sitzungssaal fesselt unsere Aufmerksamkeit. Es versetzt uns in die Zeit der Schwedennot und zeigt uns den Vorgang, wie

Das Fahnenschwingen.

die von dem Feinde bezwungene Stadt durch Fürbitte ihrer Kinder von schwerer Brandschatzung und Plünderung verschont wird. Nicht eine geschichtlich verbürgte Thatsache, sondern eine sagenhafte Ueberlieferung wird durch das Bild verherrlicht. Aehnliche Sagen sind in verschiedenen anderen deutschen Städten verbreitet. So sollen z. B. die Naumburger Kinder am 28. Juli 1432 durch einen Bittgang ihre Vaterstadt an der Saale von der Plünderung durch die Hussitenscharen Prokops gerettet haben. Die Naumburger halten zum Andenken an dieses Ereignis am genannten Tage ein Kinderfest ab. In ähnlicher Weise wird in Kaufbeuren die Erinnerung an die erfolgreiche Fürbitte der Kinder durch eine gegen Jakobi (den 25. Juli) stattfindende Belustigung, das sogenannte „Tänzelfest“, wachgehalten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0603.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)