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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Viel Vergnügen,“ erwiderte dieser und stieg die Treppe hinauf.

Im Arbeitszimmer Harnacks lagen Broschüren und Bücher auf einem großen, in die Mitte der Stube gerückten Tisch. Seitwärts stand die Theemaschine mit dem kleinen Spirituskessel.

An der Wand hing eine mäßig große Photographie; zwei ältere, sehr kleinstädtisch und dürftig gekleidete Leute, Harnacks Eltern, waren darauf zu sehen, und zwischen ihnen, an die Kniee der Mutter gelehnt, die Hand aber in der des Vaters, stand ein auffallend hübscher, zierlich gewachsener Knabe, dessen feiner Tuchkittel und breiter weißer Kragen einen grellen Gegensatz zu der ärmlichen Kleidung der Eltern bildete.

Harnack sah auf das Bild, während er die bereitstehende Lampe anzündete; aber er that es ohne Bewußtsein. Seine Gedanken, die, als er den Heimweg antrat, noch das stolze schöne Mädchen umkreist hatten, das ihm so deutlich die Herrin gezeigt hatte und für welches ihn doch eine unüberwindliche Leidenschaft erfüllte, waren durch die aufgefangenen Worte der Arbeiter noch mehr verdüstert worden. Wie geistesabwesend setzte er die Spirituslampe unter der Theemaschine in Brand und holte aus einem Eckschrank kaltes Fleisch, Brot und Butter.

Der zuckende bläuliche Schein der Flamme beleuchtete von unten herauf sein energisches dunkles Gesicht mit den tiefliegenden schwarzen Augen. Er atmete gepreßt, während die buschigen Brauen immer dichter aneinander rückten. Dann setzte er sich, doch er aß und trank nur mechanisch. Bald schob er Teller und Tassen zurück und griff voll Ungeduld nach einer eben angekommenen Broschüre, riß hastig das Kreuzband herab und fing an, die Bogen mit einem Papiermesser aufzuschneiden.

Da erklang es vom Garten her dicht unter seinen Fenstern deutlich zu ihm empor: „Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ Das Messer entfiel ihm. Blaß vor Schreck erhob er sich. Mit drei Schritten war er am Fenster, riß den herabgelassenen Vorhang hoch und öffnete den rechten Flügel. Die dunkle Frühlingsnacht, sternlos und schwül, verhüllte alles wie mit einem schwarzen Grabtuch. Nicht einmal die Umrisse der hohen Bäume waren zu erkennen.

„Junker Bühlow – Junker Bühlow!“ tönte es von neuem.

Da rief Harnack mit gedämpfter Stimme herunter: „Reinhold? Wirklich – Reinhold?“

„Wer denn sonst?“ klang es in weit weniger gedämpftem spöttischen Ton herauf. „Sei doch kein solcher Hase! Die ganze Gesellschaft ist ja ausgerückt, ich weiß auch wohin, ’s ist keine lebende Seele in der ganzen Bude, außer dir! Komm’ herunter und laß mich ein!“

Der andere gehorchte wie mechanisch. Er vergaß, das Fenster zu schließen, nahm die Lampe vom Tisch, suchte eine Weile nach dem Hausschlüssel, der, wie immer, an seiner bestimmten Stelle lag, und stieg schweren, langsamen Schrittes die Treppe hinunter.

„Wo bleibst du denn, alte Schneckenseele?“ schalt der Wartende ungeduldig und trat durch die geöffnete Thür ins Haus. „Blei in den Sohlen – hm? Freude über meinen unerwarteten Anblick scheint dich gerade nicht zu beflügeln!“

Harnack antwortete nichts, verschloß sorgsam wieder die Thür und stieg hinter dem Ankömmling die Stufen empor. Oben im Zimmer wehte ihnen ein heftiger Luftzug entgegen, Vorhang und Gardine flatterten durch das offene Fenster.

„Wetter! Hast du’s ungemütlich!“ Mit flinken, geschickten Händen griff der Ankömmling zu und machte Ordnung, doch plötzlich schauerte er zusammen, trotzdem es im Zimmer warm und die Luft draußen mild war. „So! Das hätten wir! Nun steh’ nicht wie der steinerne Gast, alter Will, und sieh deinen einzigen leiblichen Bruder nicht so an, als wär’ dir der leibhaftige Gottseibeiuns auf die Bude gerückt!“

Wilhelm Harnack nahm die dargebotene Hand und hielt sie fest, er konnte aber immer noch nichts sagen. Keine Spur von Ähnlichkeit war zwischen den zwei Brüdern zu finden. Der eben Gekommene, bedeutend jünger als der Ingenieur, war ein schlanker, beweglicher, sehr hübscher Mensch, blond, mit feinen Zügen und hellen, doch unruhigen Augen, sehr elegant nach der neuesten Mode gekleidet. Er war zeitlebens seines älteren Bruders Liebling und Sorgenkind gewesen. Die Eltern hatten diesen spätgeborenen Sohn, eln ungewöhnlich schönes, intelligentes und lebhaftes Kind, geradezu vergöttert. Reinholdchen mußte alles haben, für Reinholdchen mußte alles da sein, wonach er seine begehrlichen kleinen Hände ausstreckte. Es verstand sich von selbst, daß Wilhelm, der „Große“, sich alles abdarbte und dem „Kleinen“ gab; von den Entbehrungen, die Wilhelm durchgemacht, so lange er zu denken gelernt hatte, durfte für den Jüngsten nicht die Rede sein. Das vergrämte Gesicht der Mutter strahlte, wenn sie nur von ihrem „Holdchen“ redete – der schwerfällige, früh gealterte, kranke Vater nickte schmunzelnd, wenn von dem Kleinen gesprochen wurde: „Ja, – der! Der wird’s zu was bringen im Leben! Der muß was Großes werden!“

Sie hatten es nicht mehr erlebt, was aus ihrem Abgott wurde, die Eltern. Frühzeitig von harter Arbeit, Krankheit und Entbehrung aufgerieben, starben sie beide rasch aufeinander, als Wilhelm, der wortkarge, scheue, eisern fleißige Junge, bereits mit siebzehn Jahren im technischen Bureau arbeitete, sich durchhungerte und durchfror, um das „Höhere“ zu lernen, um Ingenieur zu werden.

Der Kleine, kaum siebenjährig, stand neben dem Sterbebett des Vaters, dessen letzter, bewußter Blick „seinem Jungen“ galt; er stand neben dem Sterbebett der Mutter, die mit schon brechenden Augen und versagender Stimme den ältesten Sohn anflehte: „Sorg’ für mein Holdchen! Will, verlaß mein Holdchen nicht!“ Und was der stille, blasse junge Mensch mit einem einzigen festen: „Ja, Mutter!“ versprochen, das hatte er jetzt durch volle sechzehn Jahre redlich gehalten. Der Kleine hatte von der Not und Sorge des Lebens nichts zu spüren bekommen; der Große sorgte wie ein Vater für den jüngeren Bruder, der sich überall beliebt zu machen verstand, schon durch die Art, wie er sein feines Blondköpfchen hob und die Leute mit seinen lichtblauen Augen anlächelte.

Ein kinderloses Paar nahm ihn für weniges Geld in Kost und Pflege, andere steckten ihm Leckerbissen und Spielzeug zu, schenkten ihm hübsche Matrosenblusen und Sammetmützen, „er war ja ein so reizendes Kind, dem alles stand“. Mit „Bruder Will“ sprang der Schelm nach seinem Belieben um; er dachte auch nicht fünf Minuten darüber nach, was der ältere Bruder für ihn that, ob es ihm schwer fiel, für sie beide zu sorgen.

Reinhold war Elektrotechniker geworden, und er hätte sehr tüchtig in seinem Fach werden können, da er Geschick zu allem besaß, was er angriff. Er wollte aber nichts ernstlich angreifen, ihm gefiel es weit besser, „sein Leben zu genießen“, und bald kam Klage auf Klage aus Hannover, wo der junge Mensch seine Studien betreiben sollte, an Wilhelm, der damals eine Stelle in Westfalen hatte. Er reiste selbst nach Hannover, bezahlte Schulden über Schulden und redete dem Bruder ins Gewissen. Holdchen machte ein zerknirschtes Gesicht, fand es „rührend“ von seinem alten Will, ihn „herauszuhauen“, und gelobte Besserung.

Nach einem halben Jahr saß er wieder fest, ließ sich aufs neue vom „lieben alten Will“ loseisen und halb widerwillig mit nach Westfalen nehmen, wo Wilhelm ihm in seiner Fabrik eine Stelle ausgewirkt hatte, um den Bruder unter seiner Aufsicht zu haben. Das war aber auch nicht gegangen; der junge Mensch ließ sich weder zügeln, noch raten; er verschwand nach kurzer Zeit, und zwar unter so bedenklichen Verhältnissen, daß Wilhelm nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls seine Stellung zu kündigen und sich eine andere zu suchen, die sich ihm dann in Josephsthal beim Baron von Hofmann darbot. Seitdem hatte er nur mit Aufbietung all seiner Kräfte den jüngeren Bruder vor Not und Schande bewahren können; er gab und gab ohne Aufhören, bis ihm zuletzt der Mut sank und er Reinhold mit der letzten größeren Summe, über die er noch verfügen konnte, nach Amerika schickte. Er hatte ihn selbst in Hamburg aufs Schiff gebracht und seither mit steigender Sorge auf Nachricht gewartet; – auf eine solche Lösung war er nicht vorbereitet gewesen!

„Na, also –“ Reinhold machte seine Rechte wieder frei und schlug dem Bruder mit der flachen Hand ein paarmal kräftig auf den Rücken, „sei so gut und finde zunächst mal deine Sprache

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0615.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)