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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Wie schön!“ sagte Alix und sog durch die halboffenen Lippen die feuchte, weiche Frühlingsluft ein.

„Nicht wahr!“ fragte ihr Begleiter zurück. „Aber Baroneß – – Pardon, Alexandra, Sie müßten einmal zum Sonnenuntergange hier sein! Der ist schöner noch als am Meer, weil wir hier durch die Nehrung, die sich davorschiebt, die doppelte Spiegelung haben, und das giebt einen Farbenschmelz, eine Glut und Pracht, daß man mitten in den Süden hinein sich versetzt fühlt. Wenn die Damen nicht seekrank zu werden fürchten, fahre ich Sie und Frau von Sperber einmal dort hinüber – mit dem Ruderboot, wenn Ihnen das sicherer ist, noch lieber freilich thät’ ich’s mit dem Segel!“

„Natürlich! Für Frau von Sperber kann ich nicht einstehen, aber ich bin ganz seetüchtig. Ich würde auch lieber segeln! Was sind das für Kinder dort unten?“

Raimund bog sich hastig vor, um besser sehen zu können.

„Gewiß aus einem von den Dörfern hier weiter unten – aus der Kolonie Josephsthal sind sie keinesfalls!“

„Sie kennen wohl viele von den Josephsthaler Kindern?“

„Beinahe alle, wenigstens dem Ansehen nach. Das beruht darauf, daß die kleine Bande mich kennt, wahrscheinlich vom Zweirad her. Ich genieße eine Art von Popularität wenigstens bei diesem Teil der Bevölkerung; mancher semmelblonde Wicht, der kaum laufen und reden kann, schreit mir, wenn ich des Weges daherkomme, sein: Tag, Herr Hagedorn! zu.“

„Und diese Art von Beliebtheit ist Ihnen angenehm, nicht wahr?“

„Eigentlich ja! Ich habe Kinder gern, und es macht mir Spaß, sie zu beobachten. Der künftige Mensch mit seinen Zu- und Abneigungen kommt in den kleinen Geschöpfen oft in der drolligsten Weise zum Vorschein, und das hat auch seine ernste Seite. Man macht da so nebenher feine psychologischen Studien!“

„Ich wäre Ihnen dankbar,“ sagte Alix nach einem leichten Zögern, „wenn Sie, der Sie doch schon seit längerer Zeit hier und gewiß ein ganz guter Beobachter sind – bitte, dies nicht als ein Kompliment aufzufassen, es ist durchaus nicht so gemeint! – wenn Sie mir also einigen Aufschluß über die Leute, aus denen sich die Fabrikbevölkerung zusammensetzt, geben wollten. Sind sie gutartig, leicht oder schwer zu lenken?“

Raimund wiegte zweifelnd den Kopf. „Das läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Unter einen einzigen Gesichtspunkt lassen sich mehrere hundert Arbeiter absolut nicht bringen. Ich finde, man geht heutzutage darin vielfach zu weit. Eines freilich pflegt überall zuzutreffen: der gute Geist unter den Leuten hängt wesentlich davon ab, ob gute oder schlechte führende Elemente vorhanden sind.“

„Selbstverständlich! Und wie verhält es sich nun damit hier bei uns in Josephsthal?“

„Im ganzen genommen günstig. Ihr Herr Vater hatte für bedenkliche Elemente, die sich einfanden, einen sehr raschen, sichern Blick und einen erbarmungslosen Griff, sie alsbald zu entfernen. Da war vor kurzer Zeit zum Beispiel hier ein Monteur – Kraßna hieß er, von Geburt ein Pole – ein tüchtiger Arbeiter, brachte gute Zeugnisse, fing aber an zu hetzen, kleine Broschüren auszuleihen, Winke zu geben, da und dort hätten es die Leute besser, schließlich enthüllte er sich geradezu als Anarchist, und sobald Ihr Vater davon erfuhr, wurde er entlassen. Allzuviel Boden hatte er nicht hier gewonnen; im allgemeinen erhitzt sich der hiesige Menschenschlag nur schwer. Aber eine kleine Gemeinde hatte der Pole doch schon; es giebt ja immer Leute, die unzufrieden sind, namentlich unter den jungen, unverheirateten Männern; die Familienväter sind vorsichtiger, weil für sie zuviel auf dem Spiel steht!“

„Und dieser Kraßna – wo ist er geblieben? Was ist, nachdem mein Vater ihn entlassen hatte, aus ihm geworden?“

Alix fragte das mit einer so gepreßten Stimme, als sei ihr der Atem plötzlich ausgegangen. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, und die Hand, mit der sie in die Falten ihres schwarzen Reitkleides griff, zitterte.

Raimund Hagedorn begriff sie auf der Stelle und schüttelte abwehrend den Kopf.

„Nein, nein, Cousine, was Sie denken, trifft nicht zu. Kraßna blieb nach seiner Entlassung noch kurze Zeit in der hiesigen Gegend, wandte sich dann nach Mecklenburg und nahm dort eine Stelle an. Man hat ihn nach – nach dem Unglück sogar gerichtlich vernommen, er hat aber ein so vollkommen glattes Alibi nachweisen können, daß jeder Verdacht sofort weggefallen ist. Was ich jedoch glaube, ist, daß Kraßna der Schreiber der anonymen Briefe war, die Ihr Herr Vater erhalten hat, Zwar mangelt auch dafür jeder Beweis, zumal außer Baron Hofmann niemand diese Briefe hat prüfen und lesen können …. aber nach allem, was ich von diesem Menschen sah und hörte, möchte ich wetten, daß er der Verfasser dieser Schriftstücke ist!“

„Und man hat ihn nicht in Untersuchungshaft genommen?“

„Einen einzigen Tag nur. Sein Alibi war, wie gesagt, nicht zu beanstanden; er hatte wenigstens acht oder neun Zeugen, die sämtlich zu seinen Gunsten aussagten!“

„Wissen Sie, Raimund“ – Alix sprach den Namen nur zögernd – „daß auch ich einen anonymen Brief vor einiger Zeit empfing?“

„Keine Silbe! Wann ist das gewesen?“

„An dem Tage, als Sie mir Ihren ersten Besuch machten, mir Ihre Lebensgeschichte erzählten!“

„Und der Inhalt?“

„Die Drohung, ich könnte das Los meines Vaters teilen, wenn ich die berechtigten Forderungen der Arbeiter nicht erfüllte!“

„Was haben Sie mit dem Briefe gethan?“

„Ich habe von ihm dem Justizrat Ueberweg, sowie dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter Mitteilung gemacht; sie wollten alles thun, um den Urheber zu ermitteln. Das scheint ihnen indessen nicht gelungen zu sein; sie hätten es mich sonst doch wohl wissen lassen!“

„Und nahmen die Herren den Versuch des Schreibers, sich als Anwalt der Arbeiter aufzuspielen, ernst?“

„Ich selbst hielt diesen Versuch für ein Manöver. Aber veranlaßt hat mich der Brief doch, über die Lage meiner Arbeiter nachzudenken. Ich ließ eine Art Komitee zusammentreten, die Direktoren der verschiedenen Werke, die obersten Ingenieure.

Mein Vetter Cecil Whitemore präsidierte. Ich legte den Herren ernstlich und dringlich die Frage vor, ob Aenderungen, Verbesserungen bei den Arbeitern geboten seien, ob die Leute anderswo bei ähnlichen Unternehmungen besseren Lohn erhielten, mit einem Wort, ob das Verlangen dieses Anonymus irgendwie gerechtfertigt sei!“

„Und die Herren antworteten Ihnen mit Nein!“

„Mit Nein – und zwar einstimmig und einmütig, ohne eine einzige abweichende Meinung – sogar ohne Zaudern. Ich möchte wissen, welches Ihre Ansicht über diese Sache Wäre!“

Raimund wandte der Sprecherin voll sein offenes, einnehmendes Gesicht zu.

„Ich spreche als Laie – als Dilettant gewissermaßen, müssen Sie bedenken, nicht als Sachverständiger. Insofern hat meine Aussage keine Bedeutung. Rede ich als Mensch zum Menschen ….“

„Nun, dann?“

„Dann habe ich zu konstatieren, daß es ungünstiger situierte Arbeiter giebt als die Josephsthaler, aber auch günstiger gestellte, daß der hiesige Arbeiter unter normalen Verhältnissen, wenn er fleißig und nüchtern ist, auskommen kann, ganz entschieden sogar …. daß aber die Einrichtungen, die für Ausnahmefälle da sind: für Krankheit, ungewöhnlich zahlreiche Familie, längere Arbeitsunfähigkeit und so fort, daß hier diese Einrichtungen mir, nach meiner Idee, teilweise unvollkommen, teilweise auch zu knapp geraten erscheinen, und daß eben auf diesem Gebiet Abhilfe, vielmehr Erweiterung und Verbesserung der bestehenden Verhältnisse, ein großer Segen sein würde!“

Alix hatte mit einem Anteil zugehört, der ihre Augen im intensivsten Blau leuchten ließ. Sie reichte Hagedorn freimütig die Hand hin.

„Ich bin Ihnen dankbar dafür, wenn Sie mir sagen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0622.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)