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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

mit meiner Seligen gethan habe. Und es wunderte mich auch, daß der niederträchtige Spekulante nicht gleich seine Karten aufdeckte, sondern mit verdrehten Augen beteuerte, er gönne der Tante Appele die ewige Seligkeit, wenn sie sie mit diesem Vermächtnis an die Kirche hätte erkaufen können. Am Ende ist er doch nicht so schlecht, dacht’ ich, wie ich geglaubt habe. Aber er hatte sich nur besser in der Gewalt und nahm sich drei Tage Zeit, den schönen Brief zusammenzuheucheln. Werden Sie aber glauben, Fräulein Rikchen, daß dem dummen Ding auch jetzt noch die Augen nicht aufgegangen sind? ,Sei froh, daß du ihn los bist!‘ sagt’ ich. Aber da wurde sie ganz wild. Ob ich nicht einsähe, daß er als ein Ehrenmann nicht anders hätte handeln können? Und dann, nachdem wir lange hin und her gestritten, ist sie in einen Weinkrampf verfallen, und wie ich sie in die Arme nehmen und ihr gute Worte geben wollte denn sie jammerte mich so bitter, daß ich selbst an zu flennen fing – da hat sie mich zurückgestoßen wie ihren schlimmsten Feind und ist in ihre Kammer gestürzt und hat sich drinnen eingeriegelt.

Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als daß ich Sie zu uns bitten ließ. Sie müssen ihr den Kopf zurechtsetzen, auf Sie Wird sie vielleicht hören.‘

„Du meine Güte! Wie sollte ich hoffen, sie zur Vernunft zu bringen, wenn sie nach so einem Brief noch an den ‚Ehrenmann‘ glauben konnte.

„Indessen klopfte der Papa an ihre Kammer. Es rührte sich drinnen aber nichts. ,Fräulein Rikchen ist da!‘ rief er. ‚Laß sie doch herein. Ich gehe noch aus, ich werde euch nicht stören.‘

„Wirklich fuhr er in seinen Rock und schlich sich aus dem Zimmer, kam aber noch einmal zurück, weil er in der Verwirrung mit bloßem Kopf hatte hinausgehen wollen. ,Wenn ich den Kerl treffe!‘ knurrte er vor sich hin. ,Wo ist denn mein Stock? der soll ihn Mores lehren!‘

„Ich hörte ihn die Thür draußen zuschlagen, dann erst klopfte ich bei Lischen an. Sie besann sich eine Weile, bis sie den Riegel zurückschob. Dann fand ich sie in ihren Kleidern auf dem Bett ausgestreckt, das Gesicht aber nach der Wand gekehrt. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und nahm ihre Hand, die eiskalt war.

„So saß ich wohl eine halbe Stunde und sprach in sie hinein und gab ihr die besten Worte. Sie antwortete aber mit keiner Silbe, nur die Hand ließ sie mir, die zuckte jedesmal, wenn ich von ihrem Schorsch etwas Ehrenrühriges sagte. Darüber wurde es ganz dunkel. Und dann setzte sie sich auf einmal auf, strich sich die Haare aus der Stirn und sagte: ,Du meinst es gut, Rikchen, aber ihr alle versteht mich nicht, und wie es in ihm aussieht, wißt ihr auch nicht. Wenn ich mit dir gut Freund bleiben soll, so rede mir nie mehr von ihm und sag auch dem Papa, er würde mich aus dem Hause treiben, wenn er noch ein einziges böses Wort gegen meinen Georg sagte. So, und nun laß mich allein, ich habe viel zu denken, was kein Mensch verstehen kann. Gute Nacht!‘

„Ich beugte mich über sie, sie zu küssen, aber sie wehrte mich heftig ab. ‚Meine Lippen gehören mir nicht mehr,‘ sagte sie, ,an die darf niemand rühren!‘ – So ging ich mit schwerem Herzen von ihr.

*  *  *

„Es ist dann aber noch viel schlimmer gekommen, als ich fürchtete.

Wie ich am nächsten Abend wieder nach ihr sehen wollte, fand ich nur den Papa, in einem so bejammernswürdigen Zustande, daß es einen Stein erbarmen mußte. In der Nacht war ein hitziges Fieber bei ihr ausgebrochen, sie hatte laut aus dem Traum geschwätzt, immer die Verse hergesagt, die in dem Brief gestanden hatten, und noch viele andere. Denn das war von klein auf ihre Passion gewesen, schöne Gedichte, mit so recht feierlichen und unverständlichen Worten, und die ihr am besten gefielen, schrieb sie sich in ein Büchlein ab. Dazwischen habe sie gelacht und gesungen, und wie am Morgen der Doktor kam, habe er gesagt, sie hat eine Gehirnentzündung und muß gleich ins Krankenhaus, denn hier hat sie nicht die richtige Pflege.

„Sie können denken, wie mich der arme einsame alte Mann dauerte, der nun zu all seiner Angst und Sorge nicht einmal seine richtige Abwartung hatte. Ich selbst lebe bei einer Verwandten. Da schlug ich dem Papa vor, bis das Lischen aus dem Krankenhaus entlassen würde, wollte ich zu ihm ziehn, daß er nicht so allein sei. Er wollte aber nichts davon hören. Ihm sei am wohlsten allein, und Pflege brauche er nicht, so lange sein Kind zwischen Tod und Leben schwebe.

„Nun, das dauerte lange genug, volle fünf Wochen. Als sie dann endlich so weit war, daß sie wieder nach Hause durfte, war sie kaum zu kennen. Ihre schönen Haare, die ihr bis in die Kniekehlen reichten, hatte man ihr abgeschnitten, sie war wie ihr eigener Schatten geworden, man sah fast die Zähne durch die Oberlippe schimmern. Auch sonst war sie wie ausgetauscht, ganz heiter, nur wie ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren, immer mit einer Spielerei beschäftigt. Der Arzt versicherte zwar, das sei nur noch eine Schwäche; mit der Zeit werde sie ihre fünf Sinne richtig wieder beisammen haben, wie’s denn auch gekommen ist. Damals aber glaubten wir nicht anders, als daß ihr Verstand für immer gestört sei. Und Sie hätten den Papa sehen sollen, mit welch verzweifelten Blicken er sein Herzblatt anstierte, bis ihm die Augen übergingen. Sie selbst merkte das nicht. Ihre Stelle in dem Achatgeschäft hatte sie freilich verloren, ging auch nie aus, außer wenn ich bei dunkler Zeit sie einmal mit Gewalt ins Freie schleppte.

„Ob ihr Ungetreuer sich noch um sie bekümmerte und am Ende doch sein infames Betragen sich zu Herzen nahm, weiß ich nicht. Im Pavillon saß er nach wie vor mit seinen gesunden Backen und dummen Veilchenaugen an seinem gewohnten Platz. Einmal begegnete ich ihm auf der Straße und spuckte vor ihm aus. Er sah aber über mich weg und that, als kennte er mich gar nicht.

„Und so wäre vielleicht mit der Zeit alles ins alte Geleis gekommen, das Lischen hätte sich wieder zurecht gefunden, und da die Verlobung heimlich gewesen war, wußten auch nur sehr wenige um die traurige Geschichte.

„Da kam plötzlich etwas ganz Unerwartetes dazwischen.

„Es ging schon gegen den Herbst; die meisten Kurgäste waren abgereist. Da sagt mir eines Morgens am Brunnen eine Kollegin: ,Weißt du schon, Rikchen, daß man gestern abend den Vater des Lischens, den alten Sekretär, halbtot in einer Droschke nach Hause gebracht hat? Es scheint, ein Schlag hat ihn gerührt. Man weiß aber nichts Näheres.‘

„Ich natürlich, sobald ich frei war, zum Lischen hin. Den Papa konnt’ ich nicht sehn, der lag in seiner Kammer, und der Doktor war bei ihm. Er lebte noch. Obwohl Lischen mehr von der Geschichte wußte, als sie mir sagen wollte, ein Schlaganfall war’s nicht gewesen. Ueber einem Stuhl im Wohnzimmer und auf dem Tisch ausgebreitet lagen seine Kleider, die waren noch ganz feucht und dazu schmutzig von Erde und Sand. Wie das gekommen, erfuhr ich nicht. Lischen saß wie versteinert auf dem Stuhl neben der Thür und horchte nur immer in die Kammer hinein, und wie dann der Doktor herauskam, schnellte sie in die Höhe und begleitete ihn hinaus. Da sprachen sie lange zusammen, und wie sie wieder hereinkam, sagte sie: ,Er wird am Leben bleiben und sogar bald wieder aufstehen können, aber ein Wunder müsse geschehen, sagt der Doktor, wenn er die Augen wieder gebrauchen könne. Nun, da werde ich eben für ihn arbeiten müssen. Ich habe auch schon zu lange die Hände in den Schoß gelegt.‘

„Sie hatte nämlich, nachdem sie ihre Stelle als Ladnerin verloren, nicht daran gedacht, wo anders unterzukommen. Auch das Spitzenklöppeln hatte sie aufgegeben seit ihrer Krankheit und war immer wie halbwach herumgegangen. Ganz aufgewacht schien sie mir auch jetzt noch nicht. Wie hätte sie sonst von dem Unglück ihres Papas reden können, ohne eine Thräne zu weinen.

„Das alles gab mir zu denken. Aber wie gesagt, von ihr brachte ich nichts weiter heraus. Erst ein paar Tage später erfuhr ich, wie’s damit zugegangen war, nicht von ihr, sondern von einem Kollegen des Schorsch, der von der ganzen Kapelle

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