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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

daß Sie sich für meine arme Freundin interessieren und mich so lange angehört haben. Wenn man so traurige Dinge weiß und sie immer geheimhalten muß, ist es eine wahre Wohlthat, sich einmal aussprechen zu können, wo man sicher ist, es wird kein Mißbrauch damit getrieben. Und nun Adieu! Ich werde mit der Drahtseilbahn hinunterfahren. Sie gehen wohl noch ein bißchen spazieren.“

Sie reichte mir die Hand und sputete sich, nach dem Stationshause zu kommen, von wo her schon das Zeichen zur Abfahrt ertönte. Ich selbst ging langsam die weitgeschwungenen Serpentinen des Malbergs hinab, an die seltsame Geschichte denkend, die ich mir eben hatte erzählen lassen.

Daß sie eine Fortsetzung haben könne, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Auch verging der Rest meiner Kurzeit, ohne daß ich mit den Personen, die darin eine Rolle gespielt, noch irgend weiter bekannt geworden wäre. Im nächsten Jahre aber – denn bekanntlich ist die Repetition nicht nur die mater studiorum, sondern auch die Bedingung des Heilerfolges jeder Badekur – wieder um dieselbe frühe Frühlingszeit fand ich mich zum zweitenmal an der Stätte meiner freiwilligen Verbannung ein, und als ich am ersten Abend wieder auf meinem Balkon sitzend und eine einsame Cigarre rauchend die Klänge der Kurkapelle zu mir herüberwehen hörte – es war richtig wieder das Potpourri aus „Fatinitza“! – dachte ich daran, ob ich morgen früh wohl auch wieder den gefährlichen Herzenbrecher seine Bratsche streichen und ein schlankes blasses Mädchen zu ihm hinaufschmachten sehen würde.

In dieser Erwartung fand ich mich getäuscht. Der Choral wurde angestimmt ohne Mitwirkung des schönen Schorsch, und den Platz auf der Bank, wo Lischen gesessen, hatte eine dicke, rotwangige, mit vielen Ringen geschmückte Jüdin eingenommen, die in allem das Widerspiel des verlassenen Emser Mägdleins war.

Auch nach Fräulein Rikchen spähte ich unter der Schar der Brunnennymphen vergebens, und da der Blinde von Dausenau sich in seinem stumpfsinnigen Schweigen verstockte, war auch keine Aussicht, von ihm über seine blasse Tochter etwas Näheres zu erfahren.

Ich wollte aber doch einen Versuch machen, ob ich ihm vielleicht die Zunge lösen könne, wenn ich ihn geradezu nach dem Befinden von Fräulein Lischen befragte. Die Ueberraschung, jemand vor sich zu haben, der in das Familiengeheimnis eingeweiht sei, konnte ihm immerhin eine Antwort ablocken.

So schlug ich am ersten sonnenlosen Tage den Weg lahnaufwärts ein. Als ich zu der Stelle kam, wo die Straße ein Knie macht und nun in gerader Richtung nach dem kleinen Flecken hinläuft, sah ich nicht weit von mir eine kleine runde Frauengestalt eilfertig dahinstapfen, deren Bewegungen, mehr noch der schwarze Strohhut mit dem Strauß roter Mohnblumen mich sofort an meine gute Bekannte vom vorigen Jahre erinnerte.

Ich hatte sie trotz ihres Geschwindschritts bald eingeholt.

„Guten Abend, Fräulein Rikchen!“ rief ich, noch einige Schritte hinter ihr. Augenblicklich wandte sie sich um und kehrte mir ihr rundes, munteres Gesicht zu, jetzt vom schnellen Gehen und der Ueberraschung, sich angerufen zu hören, ein wenig gerötet.

„Jesus Maria!“ sagte sie, mir die Hand hinstreckend, „Sie sind es! Nein so was! Eben hab’ ich an Sie gedacht und was Sie wohl sagen würden, wenn Sie wüßten –“

„Das trifft sich ja vortrefflich,“ erwiderte ich, „denn auch ich wollte eben versuchen, ob ich Ihre Spuren nicht wieder entdecken möchte, und deshalb sogar mit dem blinden Papa ein kleines Verhör anstellen. Beim Brunnen hab’ ich mich vergebens nach Ihnen umgesehen, Fräulein Rikchen.“

„Nix Fräulein mehr,“ lachte sie; „das lauwarme Wasser habe ich inzwischen mit kühlem Wein vertauscht. Sie müssen nämlich wissen, vergangene Michaelis habe ich geheiratet, einen Weinhändlerssohn von hier, der Vater hat ihm das Geschäft übergeben, unser Häuschen steht – (sie nannte mir Straße und Hausnummer). Wir leben sehr glücklich miteinander, und daß er früher in das Lischen verliebt war, bis sie ihm einen Korb gegeben hat, nehm’ ich ihm gar nicht übel. Im Gegenteil, wir können nun beide von ihr sprechen. Gerad’ an dem Tag, wo ich Ihnen vorm Jahr zuerst begegnet bin, in dem Wirtsgarten vor Dausenau, hat sie ihm das letzte Wort gesagt und ihm jede Hoffnung abgeschnitten. Mich dauerte der hübsche brave Mensch, wie er so betrübt abzog, aber jetzt bin ich doch froh, daß es so gekommen ist, ich wäre jetzt nicht seine Frau, und für sie hätte er doch nicht so gut gepaßt, er wäre ihr nicht ,poetisch‘ genug gewesen.“

„Wie geht es denn Ihrer armen Freundin?“ fragte ich, indem wir nun nebeneinander unseren Weg fortsetzten.

Sie blieb plötzlich wieder stehen und sah mich erstaunt an.

„Aber wissen Sie denn gar nicht –?“ rief sie mit einem Seufzer. „Freilich, wie sollten Sie’s erfahren haben! Es stand wohl in unserer Zeitung, die kommt aber nicht so weit herum. Ach, das arme Lischen! Vielleicht wäre doch alles anders gekommen, wenn sie damals meinen Fritz genommen hätte. Aber nein, es war ihr ja an der Wiege gesungen, daß sie nicht glücklich werden sollte. Gerade die Besten gehen oft leer aus, und die Wege der Vorsehung sind dunkel. Ich werde immer ganz wirr in meinen Gedanken, wenn ich mir einen Vers drüber machen will, warum es nicht nach der Gerechtigkeit auf Erden zugeht, und Fritz schilt mich dann und sagt, über so was nachzugrübeln, mache vor der Zeit alt, das müsse man unserm Herrgott überlassen. Lischen war besser als ich, die nahm alles, was ihr bestimmt war, ohne Murren hin, und wenn sie zehnmal betrogen worden wäre, ihren Leibspruch hätte sie nicht aufgegeben, nämlich den Vers:

Die Treue ist doch kein leerer Wahn,
Der Mensch kann sie üben im Leben –

ich glaub’, der ist von Goethe. Ach, lieber Herr, an dem Spruch ist sie zu Grunde gegangen.“

„Ihre Freundin ist tot? Erzählen Sie mir, bitte, Frau Rikchen – Sie wissen, wie großen Anteil ich an Ihrer armen Freundin genommen habe.“

„Ich hätte es Ihnen gern geschrieben, lieber Herr, ich wußte ja Ihren Namen nicht und Ihre Adresse. Und Sie waren schon abgereist, als es sich zutrug, kaum vierzehn Tage, nachdem ich Ihnen zum letztenmal Ihr Glas Kesselbrunnen gefüllt hatte. Da geh’ ich eines Nachmittags – es war gerade Feiertag und das Geschäft, in dem Lischen verkaufte, geschlossen – sie hatte mich abgeholt, wir wollten einen kleinen Spaziergang machen – also gehen wir untergefaßt durch die Anlagen und freuen uns an den schönen Blumen, und ich mach’ allerlei Spaß, daß sie wirklich einmal lacht – auf einmal fühl’ ich, daß es ihr durch den Arm zuckt, und sie drückt sich an mich, um sich vorm Umfallen zu schützen, und flüstert mir zu: ,Fort! Nur dort hinein!‘ und will mich nach links in eine dunkle Allee ziehen. ,Was hast du, Schatz?‘ frag’ ich ganz erstaunt. Mit dem aber seh’ ich selbst, was sie hatte: den Weg daher, gerade auf uns zu, kommt er, ganz in Wichs mit einer hellen Krawatte und den blanken Cylinder ein bißchen verwogen auf die eine Seite gedrückt. Und am Arm führt er eine gleichfalls aufgedonnerte Dame mit einem Gesicht wie seins, schön rot und weiß und dieselben kalten, hochmütigen Augen. Es war zu spät, ihnen auszuweichen, auch hätt’ ich mich geschämt, davonzulaufen wie zwei arme Sünderinnen, als wäre das böse Gewissen auf unserer Seite. ,Sei tapfer, Schatz!‘ raun’ ich dem Lischen zu und ziehe sie möglichst unbefangen vorwärts an dem Paar vorüber. Er sieht nach der andern Seite und wird ganz blaß im Gesicht, sie aber schaut nach dem Lischen ganz frech und höhnisch und sagt dann ihrem Bräutigam etwas, was ich nicht verstand. Denn ihr Bräutigam war’s, erst seit kurzer Zeit, aber die ganze Stadt wußt’ es, bis auf meine arme Freundin. Ich hatte immer auf eine gute Gelegenheit gewartet, es ihr mitzuteilen; nun war sie so damit überrumpelt worden.

„Als wir wieder allein waren, führte ich sie zu einer Bank, und da sprach ich lange mit ihr, und sie sagte kein Wort; ich wunderte mich, daß sie es nach dem ersten Schrecken so ruhig hinnahm. Die Braut nämlich war eine Witwe so in der Mitte der dreißiger, eine vom Lande, die einen reichen alten Mann geheiratet und nach ein paar Jahren glücklich zu Tode gequält hatte. Seitdem hatte sie für sich gelebt, in Niederlahnstein, ihr Ruf war nicht der beste, das kümmerte sie aber nicht, da sie Geld genug hatte und sich für sehr reizend hielt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0636.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2023)