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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Die Sehschärfe der Naturvölker und der Deutschen.
Von Professor Dr. Hermann Cohn in Breslau.

Schon im vorigen Jahrhundert berichteten die Reisenden, daß die Naturvölker eine außerordentliche Sehschärfe besitzen. So erzählte Pallas im Jahre 1776, daß ein gemeiner Kalmück in einer später auf 30 Werst (d. h. über 30 Kilometer) geschätzten Entfernung den Staub einer nahenden Heerschar erblickte und auch anderen minder geübten Augen zeigte, während der beim Heer befindliche Oberst Kischinskoi mit einem guten Fernglase nicht das Geringste zu sehen vermochte. Bergmann berichtete 1802 folgendes: Ein Kalmück rief seinen mit ihm verirrten Genossen zu, daß er jemand auf einem Schecken einen Hügel hinanreiten sehe. Die übrigen, die sich hierdurch verleiten ließen, der angezeigten Spur nachzureiten, fingen schon an, über den Irrtum ihres Gefährten und ihre eigene Leichtgläubigkeit zu spotten, als sie nach einem Ritt von 20 Werst (über 20 km) neben einem Hügel anlangten, auf welchem ein betrunkener Kalmück eingeschlafen war, während sein scheckiges Pferd mit zusammengeschnürten Füßen unbeweglich neben ihm stand.

Ganz Erstaunliches berichtet Alexander von Humboldt im dritten Bande des „Kosmos“. Er befand sich eines Tages in der Villa des Marquis de Selvalegre in Chillo bei Quito; sein Freund Bonpland hatte allein eine Expedition nach dem 85 000 Fuß, d. h. 3,7 geographische Meilen von der Villa entfernten Vulkan Pichincha unternommen. Die Indianer in Chillo sahen nun Bonpland als einen weißen Punkt, der sich vor den schwarzen Basaltfelswänden des Vulkans bewegte, mit bloßem Auge eher, als ihn Humboldt mit dem Fernrohr fand.

Stanley erzählt, daß die Waganda am Victoria-Njansa mit ihren Augen die Leistungen eines guten, 125 Mark kostenden Fernrohres übertrafen. Auch der Afrikareisende Dr. Fischer aus Sansibar teilte Herrn Dr. Kotelmann in Hamburg mündlich mit, daß die eingeborenen Elefantenjäger des äquatorialen Ostafrika öfters Antilopen mit bloßem Auge wahrnahmen, die er mit seinem Opernglase nicht zu erkennen vermochte.

Zweifellos war das Sehvermögen der genannten Naturvölker also schärfer als das der kultivierten Reisenden. Allein wirkliche Messungen der Sehleistung der Naturvölker waren niemals vorgenommen worden.

Als aber im Jahre 1879 eine Karawane von Nubiern im Zoologischen Garten in Breslau vorgeführt wurde, benutzte ich die so günstige Gelegenheit, um die erste Messung ihrer Sehschärfe vorzunehmen; später wurden ähnliche Untersuchungen von anderen Forschern an Naturvölkern, welche in anderen Zoologischen Gärten gezeigt wurden, angestellt. –

Wie kann man die Sehschärfe prüfen? Zum Verständnis der Beantwortung dieser Frage muß ich den geneigten Leser bitten, einige Minuten mir in das Gebiet der Anatomie des Auges und der elementaren Optik zu folgen.

Fig. 1.

Der Augapfel ist sehr ähnlich der photographischen Camera gebaut. Die vorderen Teile, die Hornhaut (Figur 1 h) und die Krystalllinse (l) entsprechen dem Objektiv der Camera, dem vorderen Glase; sie lassen die Lichtstrahlen in das Auge eintreten und brechen sie so zusammen, daß sie auf der Netzhaut oder Sehhaut (n), welche an der hintern Wand des Auges ausgebreitet ist und welche der matten Scheibe in der Camera entspricht, sich zu einem sehr kleinen umgekehrten Bilde vereinigen. An dem hinteren Pole (p) des Auges befindet sich nun in der Netzhaut eine eigentümliche Stelle, eine kraterartige Vertiefung, die Netzhautgrube. Das ist die Stelle der Netzhaut, mit welcher wir am schärfsten sehen. Wenn wir einen Gegenstand genau sehen wollen, so stellen wir das Auge so, daß das Bild desselben genau auf diese Grube fällt. Wir sagen dann, wir „fixieren“ einen Gegenstand. Wenn die Netzhautgrube durch Krankheiten zerstört wird, hört jedes scharfe Sehen für immer auf.

Unter dem Mikroskop zeigen sich nun in der Netzhautgrube Tausende dicht aneinander stoßender Zellen, sogenannte Sehzapfen (Figur 3). Sie erscheinen als schmalste, flaschenartige Gebilde, die aus einem etwas mehr bauchigen Zapfenkörper und einem äußerst schlanken Zapfenstäbchen bestehen. Das sind die lichtempfindenden Elemente, von denen jedes kaum 1/1000 Durchmesser hat. Auf diesen Zapfen werden die Bilder der Außenwelt am schärfsten wahrgenommen. –

Man beurteilt nun die Sehschärfe nach der Fähigkeit, zwei nahe aneinander gelegene Punkte in großer Ferne noch als zwei zu unterscheiden. Die Prüfung der Sehschärfe hat also Aehnlichkeit mit der Prüfung des Tastsinnes. Jedermann kann leicht folgenden einfachen Versuch machen. Schließt man die Augen und bringt einen Zirkel so auf seine Zungenspitze, daß die Zirkelspitzen nur noch 1 mm auseinander stehen, so empfindet man trotz der geringen Entfernung der Zirkelspitzen dennoch, daß es 2 Spitzen sind. Macht man denselben Versuch an der Fingerkuppe, so empfindet man beide Spitzen nur als eine einzige; man muß hier die Zirkelspitzen schon auf 2 mm voneinander entfernen, um sie auf der Fingerkuppe noch als zwei zu unterscheiden. Auf dem Handrücken nehmen wir sie erst wahr, wenn sie 20 mm, und auf dem Oberarm erst, wenn sie 60 mm voneinander abstehen. Die Feinheit des Tastsinnes mißt man also nach der Thätigkeit, zwei Zirkelspitzen noch als gesondert auf der Haut wahrzunehmen. So ist auch beim scharfen Sehen das Unterscheiden zweier wenig voneinander entfernter Punkte maßgebend.

Wovon hängt diese Unterscheidung im Auge ab?

Jede Lupe hat in ihrem Innern einen Punkt, den optischen Mittelpunkt, durch welchen alle in sie eintretenden Lichtstrahlen ungebrochen hindurchgehen. Auch das Auge hat im Innern der Krystalllinse einen solchen Punkt (Figur 1 k), den man Knotenpunkt nennt. Wenn also von einem leuchtenden Punkte A Lichtstrahlen in das Auge fallen, so geht der Lichtstrahl ungebrochen weiter bis zur Netzhaut, bis zu a; sein Bild muß also in a liegen; ebenso geht der von B durch den Knotenpunkt gezeichnete Lichtstrahl Bk ungebrochen weiter bis zur Netzhaut, und sein Bild muß in b liegen.

Die beiden Lichtstrahlen, die von den leuchtenden Punkten A und B kommen und den Knotenpunkt k passieren, schließen nun offenbar einen Winkel ein, den Winkel AkB und dieser Winkel heißt der Gesichtswinkel.

Fig. 2.

Sind die beiden leuchtenden Punkte sehr nahe am Auge oder sehr weit voneinander entfernt, so ist dieser Winkel natürlich sehr groß (siehe in Figur 2); je weiter aber die beiden Leuchtpunkte vom Auge fortrücken, oder je näher sie aneinander stehen, um so kleiner wird der Winkel, wie man beim Winkel in Figur 1 sehen kann; aber immer noch werden die beiden leuchtenden Punkte als zwei wahrgenommen werden. Wenn aber der Winkel äußerst klein wird, so werden die Punkte nicht mehr als zwei, sondern als ein einziger empfunden werden.

Nun teilt man bekanntlich einen rechten Winkel (ACB, Figur 4) in 90 Grade ein; Winkel ACD hat 10 Grade, ebenso ECB; Winkel FCB ist 1 Grad. Jeder dieser 90 Winkelgrade hat wieder 60 Winkelminuten; eine Winkelminute ist also der 5400te Teil eines rechten Winkels. Man hat nun nach theoretischen Berechnungen und nach Sehprüfungen in Zimmern diesen Winkel von einer Minute als kleinsten Gesichtswinkel angenommen, unter welchem noch zwei Punkte als 2 unterschieden werden. –

Man hat daher Punkte, Zeichen und Buchstaben konstruiert von solcher Größe, daß sie in einer gewissen Entfernung unter einem Winkel von einer Minute dem Auge erscheinen, und man

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0661.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)