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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

können sie im Hinblick auf ihre Sehkraft den Naturvölkern an die Seite stellen. Sie waren bisher noch nicht untersucht worden, und es war wohl zu vermuten, daß ihre Sehleistungen vorzügliche sein würden, da sie sich nicht mit Nahearbeit beschäftigen, sondern fast sämtlich Schiffer oder Fischer sind. Ich benutzte daher die Gelegenheit eines Badeaufenthaltes vor zwei Jahren, um in Helgoland, wo ich niemals einen Eingeborenen mit einer Brille gesehen, 100 Männer unter freiem Himmel vor dem Hause der königlichen biologischen Anstalt mit meiner Hakentafel zu prüfen. Die Sehleistungen derselben waren geradezu erstaunliche. Auf 6 m lasen nur 5, bis 9 m 16, bis 12 m 40, bis 15 m 22 und bis 18 m sogar 8. Letztere hatten also dreifache Sehschärfe; zwischen zwei- und dreifacher Sehschärfe hatten mithin 30%. Nur ein einziger Helgoländer von 19 Jahren hatte eine halbe Sehleistung, und dieser, lehrreich genug, war der Gemeindeschreiber! Im Mittel hatten die Helgoländer fast doppelte Sehschärfe.

Natürlich mußten solche Befunde bei mir schon lange die Vermutung erwecken, daß überhaupt unser Maßstab zu klein gewählt sei, daß auch das normale Auge bei Europäern wohl viel weiter sehe, als man nach den früheren Untersuchungen in Schulzimmern angenommen, daß man also nicht einen Gesichtswinkel von einer Minute, sondern einen noch kleineren Winkel als die Grenze ansehen müßte.

Dafür sprechen die Schuluntersuchungen, die ich in Schreiberhau im Jahre 1871 vorgenommen. Von den 244 Augen der Schulkinder, die ich damals unter freiem Himmel geprüft, hatten 38 zwischen ein- und einundeinhalb-, 85 zwischen einundeinhalb- und zweifacher, 104 zwischen zwei- und zweiundeinhalb- und 10 zwischen zweiundeinhalb- und dreifacher Sehschärfe.

Nach Prüfungen, welche von Professor Donders und Dr. Vroesom de Haan in Utrecht im Jahre 1860 vorgenommen worden waren, und die sich leider nur auf 28 ältere Personen erstreckten, war ein Gesetz veröffentlicht worden, welches lautete: Die Sehschärfe beträgt im 40. Jahre 20/20, im 60. Jahre 14/20, im 70. Jahre 12/20 und im 80. Jahre 10/20 d. h. selbst gesunde Augen haben in hohem Alter nur eine halbe Sehschärfe. Ein solches Gesetz schien mir schon vor 30 Jahren ganz unrichtig, da ich viele Personen kennengelernt, welche trotz ihrer 70 und 80 Jahre normale Sehschärfe gezeigt hatten. Daher prüfte ich im Jahre 1874 in Schreiberhau, wo es auffallend viel alte Leute giebt, wo nur wenige dieser Greise lesen gelernt und also ihre Augen in der Nähe nicht angestrengt hatten, 100 Personen von 60 bis 85 Jahren auch mit Haken unter freiem Himmel. 70% hatten keine herabgesetzte Sehschärfe. 70 Augen hatten 1 bis 11/2, 17 11/2 bis doppelte Sehschärfe, ein Auge sogar über doppelte Sehschärfe. Die Durchschnittsgröße der Sehschärfe betrug bei den 60jährigen 27/20, bei den 70jährigen ebensoviel und bei den 80jährigen 25/20.

Die erstaunlichen Leistungen, die ich in Schreiberhau bei Schulkindern gefunden, regten den Oberstabsarzt Dr. Burchardt in Kassel im Jahre 1873 an, die Mannschaften des hessischen Feldartillerie-Regimentes Nr. 11 auf Sehschärfe zu prüfen. Zu seiner nicht geringen Freude fand er unter den 474 Augen jener Artilleristen 281 zwischen einfacher und doppelter, 73 mit doppelter und 16 mit zweiundeindrittelfacher Sehschärfe.

Da es nun bei der Bedienung der Geschütze darauf ankommt, Soldaten, welche recht scharf sehen, sogenannte Richtnummern zu bekommen, und da dadurch die Trefffähigkeit der Geschütze wesentlich erhöht wird, so meinte er mit Recht, es müsse bei der Aushebung eine allgemeine Einteilung nach den Augen ebenso wie nach der Körperlänge stattfinden. Leute mit so ausgezeichneten Sehleistungen dürfen nicht dem Train, den Pionieren, dem Eisenbahnbataillon oder dem Krankendienste, sondern nur der Artillerie oder Infanterie überwiesen werden.

Vor zwei Jahren hatte ich mit gütiger Erlaubnis des damaligen Kommandanten von Helgoland, des Herrn Kapitän zur See Stubenrauch, auch Gelegenheit, die auf Helgoland stationierten Mannschaften der kaiserlichen Marine, 83 Mann, und 14 Mann von den damals dort manövrierenden Artilleristen des Torpedogeschwaders zu untersuchen. Es lasen von ihnen statt bis 6 m auf 7 bis 9 m 10%, auf 10 bis 12 m 36%, auf 13 bis 15 m 35%, auf 16 bis 18 m 7% und einer sogar bis 19 m. Er hatte also mehr als dreifache Sehschärfe!

Es zeigte sich mithin, daß in der Marineartillerie erfreulicherweise dort 89% übernormale Sehschärfe besitzen. Durchschnittlich hatten sie doppelte Sehschärfe. Unter diesen Artilleristen waren keineswegs lauter Küstenbewohner, sondern auch viele Soldaten aus dem Innern Deutschlands.

Wenn ich übrigens die Resultate, die bei 238 uncivilisierten und bei 2620 civilisierten Personen gefunden worden, zusammenstelle, so ergiebt sich merkwürdigerweise, daß die Naturvölker den Kulturvölkern in den Sehleistungen nicht voraus sind; denn von ersteren hatten 48%, ein- bis zweifache, 40%, zwei- bis dreifache, 1,8% drei- bis achtfache Sehschärfe; bei den Kulturvölkern entsprechen diesen Zahlen 62%, 23% und 3,9%. Das Falkenauge der Wilden beruht daher wohl mehr auf der feinen Schulung der Aufmerksamkeit für ferne bewegliche Objekte, die dem meist in Gedanken versunkenen Europäer entgehen.

Gewiß wäre es von großer Wichtigkeit, auf dem bezeichneten Wege die wirkliche Sehleistung aller deutschen Soldaten und Schulkinder kennenzulernen. Ich habe schon im November 1896 eine Eingabe zunächst an das preußische Kriegsministerium gerichtet. Der Herr Kriegsminister von Goßler antwortete mir aber, daß dienstliche Erwägungen die Ausführung zur Zeit unthunlich erscheinen ließen. Daß anderwärts dienstliche Erwägungen die Prüfungen nicht hinderten, beweisen die Untersuchungen, welche zwei bayrische Militärärzte in Neu-Ulm und in München, durch meine Helgoländer Untersuchungen angeregt, und einige Regimentscommandeure in Preußen mit meiner Tafel in diesem Jahre vorgenommen haben.

Stabsarzt Seitz prüfte 468 Artilleristen in Neu-Ulm und fand sogar bei 95% derselben übernormale Sehschärfe, und zwar bei 87% zwei- bis dreifache Sehschärfe. Generalarzt Seggel ließ 930 Artilleristen in München im Freien prüfen und fand 92% übernormal, bei 51% doppelte Sehschärfe, bei 4 Mann dreifache und einmal sogar Sehschärfe 19/6. Als er aber mit Buchstabenproben untersuchte, hatten nur 27% doppelte Sehschärfe. Die Haken werden also weiter erkannt als gleich große Buchstaben.

Sehr interessant ist auch der Vergleich, den Seggel jetzt mit seinen Befunden aus dem Jahre 1873 aufstellt. Damals hatten von 1560 Soldaten 56% übernormale, jetzt dagegen 92% übernormale Sehschärfe. Die Ursache dieser Besserung findet Seggel wohl mit Recht in den seit damals viel besser gebauten Schulen, in den hellen Zimmern der Schulen, und er dringt mit Recht auf die splendideste Tages- und künstliche Beleuchtung aller Schulen, Arbeitsräume, Bureaus, Comptoirs etc.

Generalarzt Seggel hat auch neuerdings die sehr wichtige Thatsache beobachtet, daß infolge der besseren Verhältnisse der Augenhygieine in den untersuchten Münchener höheren Schulen die Kurzsichtigen, trotzdem sie ihre Augen viel anstrengen mußten, Verbesserung ihrer Sehschärfe erfahren haben.

Daß Verbesserung der Sehschärfe sogar bei den höchsten Graden von Kurzsichtigkeit vorkommen kann, wenn die Linse durch Operation entfernt wird, habe ich schon im Jahre 1896 in Halbheft 27 der „Gartenlaube“ in meinem Aufsatze Die operative Heilung der Kurzsichtigkeit“ mitgeteilt.

Ich ersuchte auch den preußischen Unterrichtsminister, Herrn Dr. Bosse, im vorigen Winter, daß er eine Prüfung aller preußischen Schulkinder in Bezug auf ihre Sehschärfe veranlassen möge. Der Herr Unterrichtsminister antwortete mir, daß der Anregung zur Zeit so erhebliche Hindernisse entgegenstehen, daß er einstweilen von einem weiteren Vorgehen noch Abstand nehmen müsse; doch solle die Angelegenheit immerhin im Auge behalten werden.

Es ist natürlich bedauerlich, daß die von mir geplante große Enquete nicht officiell in Preußen angeordnet wird. Ich muß immer wieder betonen, daß sie weder Kosten noch Mühe verursacht, daß jeder Lehrer, jeder Unteroffizier sie auf dem Turnplatze oder auf dem Exerzierplatze in einer Minute vornehmen kann, und daß also weder der Unterricht, noch der Dienst durch sie gestört wird. Das Ziel ist nicht allein von hohem ethnographischen, sondern auch von zweifellos praktischem Interesse für die Beurteilung der Wehrhaftigkeit der deutschen Jugend.

Jeder Leser kann übrigens leicht mit den 16 Haken, die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0664.jpg&oldid=- (Version vom 16.2.2023)