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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Ich fuhr ganz wohlgemut mit meinem Einspänner in den bildschönen Frühlingstag hinein und legte mir gar nichts von dem zurecht, was ich etwa zu dem alten Herrn sagen wollte. Das mußte alles der Augenblick mit sich bringen!

Wie der Wagen endlich in Greifswald vor einem graugestrichenen, etwas engbrüstigen Hause hält, wird mir doch etwas beklommen zu Mute – was soll ich denn eigentlich sagen? Nur: ,Hier bin ich und will Sie kennenlernen?‘

Eine freundliche, sehr gesprächige Frau in einer großen gestreiften Wirtschaftsschürze nimmt mich in dem kühlen, dämmerigen Hausflur in Empfang, und ich frage nach Herrn Hagedorn. Der sei vor knapp zehn Minuten ausgegangen, aber er müsse bald wiederkommen, und ob ich nicht unterdessen hinaufspazieren wolle?

Ich bin dann wirklich ,hinaufspaziert’, und die Gute schickte sich an, mich zu begleiten, wurde aber von ihrem Dienstmädchen abgerufen und mußte mich allein lassen, sehr zu ihrem Kummer, und sehr zu meiner Erleichterung!

Oben sah ich mich neugierig um. Zwei saubere helle Stübchen, die Dielen blank gescheuert, und die Lenzessonne schien durch schneeweiße Gardinen. In der Ecke des etwas größeren Vorderzimmers ein großer Bücherschrank, die Fächer alle von oben bis unten bestellt. Auf dem hohen Aufsatz des altmodischen, aber hübschen Schreibtisches, der beim rechten Fenster steht, ein paar aufgestellte Bilder in Rahmen, kleinere und größere, an der Wand dahinter wieder Bilder. Ich sehe genauer zu – ein entzückender Lockenkopf, ganz klein, auf dem Schoß einer schönen, vornehmen Frau – Raimund und seine Mutter! Hier wieder Raimund, um einige Jahre älter, im Sammethabit und Spitzenkragen, Raimund als halbwüchsiger Junge, Raimund als Student und so fort. Und da an der Wand zwischen vier, fünf andern Bildern, die mir fremd sind, sehe ich ein Gesicht, ein wohlbekanntes, ein schönes, geliebtes – meine Mutter, und sie blickt mich an, als wolle sie zu mir reden. Ach, Maria, wie mich das ergriff!

Wie dann mein Blick endlich die Bilder losläßt und über die Platte des Schreibtisches hinfliegt, bleibt er zufällig – nein, nein, Liebe, es war mehr als ein Zufall, ganz gewiß! – an einem offenen Brief haften, der zwischen Büchern und Papieren da liegt, wie eben aus der Hand geworfen; die Aufschrift lautet: Herrn Eberhard Hagedorn, Hochwohlgeboren, Greifswald, und der Poststempel ist Wien.

Wien! Es geht wie ein elektrischer Schlag durch mein Empfinden! Ich sage mir gleich darauf, das könne ein ganz gleichgültiges Schreiben sein, der alte Herr stehe sicher noch mit einigen Leuten dort in Verbindung: aber immer wieder packt es mich: und wenn es der einstige Geschäftsfreund wäre, der das Hagedornsche Vermögen verbracht hat? Ich drehe vorsichtig den Brief herum: Absender Leopold Steglhuber, Wien, Johannesgasse. Nun war ich so klug wie zuvor, der Name bewies mir gar nichts, Raimund hatte mir nicht gesagt, wie jener Geschäftsfreund hieß.

Du hast es des öfteren eine unehrenhafte Handlungsweise genannt, fremde Briefe zu lesen, Maria, und ich habe Dir beigestimmt! Ich hörte Deine Stimme auf einmal ganz deutlich: ,Thu’ das nicht, Alix, das ist nicht ehrenhaft! Geh’ den geraden Weg!‘ Aber ob mich der gerade Weg in diesem Fall zu meinem Ziel gebracht hätte – nein, nein, ich will auch nicht den jesuitischen Grundsatz aussprechen, daß der Zweck die Mittel heilige … ich that Unrecht, ich empfand es als solches, und die Hände zitterten mir vor Aufregung, aber gethan hab’ ich es! Verzeih’ mir und laß mich sehen, ob ich den Inhalt des Briefes aus dem Gedächtnis wiederherstellen kann!

,Es wird Sie wundern,‘ so etwa begann das Schreiben, ,einen Brief nach so langer Zeit von mir zu empfangen, und mein Name wird Ihnen keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Sie waren damals, nachdem das große Unglück mit dem Verlust Ihres Geldes Sie betroffen, so gütig, mir zu schreiben, Sie trügen mir’s nicht nach, Sie wüßten, daß ich schwer gekämpft hätte, um den rollenden Stein aufzuhalten, daß ich jetzt selber aufs ärgste unter den eingetretenen Ereignissen leiden müßte, und daß Sie mich, trotz allem, dennoch für einen ehrlichen Mann hielten!

Herr Hagedorn, das kann und das werde ich Ihnen nie vergessen! Die hellen Thränen sind mir aus den Augen gestürzt, daß so der Mann schreiben konnte, den ich, wenn auch ohne Absicht, schwer, schwer geschädigt hatte! Und ich gelobte mir: kommst Du noch jemals in Deinem Leben wieder auf die Füße zu stehen, dem Mann gedenkst Du es!

,Und nun werden Sie,‘ so fuhr der brave Mann in seinem Brief etwa fort, ,sicher denken, ich hab’ halt einen guten Treffer gemacht, bin wieder obenauf und werde Ihnen gegenüber mein Wort einlösen. Leider – so weit sind wir noch nicht!

Ich hab’ hart gearbeitet, hoffentlich glauben Sie mir das, um wieder in die Höhe zu kommen, aber für einen, der ganz, ganz tief drunten sitzt, bis an Kopf und Hals belastet mit eigenen und fremden Verpflichtungen, ist das rasend schwer. Ich hab’ mich in Comptoiren herumgedrückt, hab’ Kommissionen übernommen, bin Agent gewesen, hab’ ein dutzendmal gedacht: es geht nicht, jetzt machst du ein Ende! und zehn dutzendmal: es muß gehen und du kommst doch durch!

Nun hab’ ich durch eine Kette von Umständen, die herzuzählen gar zu weitläufig sein würde, den Inhaber eines Geschäftshauses kennengelernt – ich lege Ihnen die Karte der Firma bei – der Name derselben hat in der Wiener Geschäftswelt, in unserer Branche, einen guten Klang. Der Inhaber hat mich lange in aller Stille beobachtet, Erkundigungen über mich eingezogen, mir dies und jenes übertragen, kleine Gewinnanteile zugewendet, endlich so viel Vertrauen zu mir gefaßt, daß er mich als Teilhaber in sein Geschäft hinein haben möchte. Für mich ein großer Glücksfall, so groß, daß ich kaum wagte, daran zu glauben! Aber eben, weil mein neuer Gönner solid ist, so ist er auch vorsichtig. Er verlangt Kaution von mir, fünftausend Gulden – erstaunlich wenig, wenn man die Verhältnisse kennt! – doch ich habe sie nicht, kann hier keine Christenseele darum bitten, da meine einstigen Freunde sich seit dem Unglück alle von mir zurückgezogen haben und die Leute, mit denen ich jetzt verkehre, mir teils nicht nahe genug stehen, um sie um ein Darlehen anzugehen, teils arme Teufel gleich mir sind.

Sie werden sagen, das sei eine schöne Taktik, erst einem Ehrenmann das Geld verbringen und dann, nach Jahren, noch um neues bitten. Aber Sie müssen – mein Gott, Sie müssen verstehen, wie dies von mir gemeint ist! Vor mir liegt eine Chance, eine, kann ich sagen, goldsichere Chance, wieder emporzukommen, und ich bin noch in guten Jahren und kann viel leisten …. Sie sind, das schwöre ich Ihnen, der erste, der teilhaben soll an meinem Gewinn. Sie wissen auch, solange ich es konnte, hab’ ich Ihnen Zinsen und Tantieme redlich und pünktlich gezahlt – und ich weiß, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe: ich thu’ es wieder, ich trag’ Ihnen alle jetzigen und früheren Zinsen samt Kapital ehrlich wieder ab!

Wollen – – und können Sie mir helfen? Ich weiß nichts Näheres über Ihre Verhältnisse, weiß nicht, ob Sie sonst noch über Ressourcen verfügen, und seit Sie aus Wien verschwunden sind, hat mir niemand Auskunft über Sie zu erteilen vermocht. Ich sollte aber meinen, daß Sie, nach allem, was man über Ihre und Ihres Herrn Sohnes Lebensweise hier hörte, noch andere Hilfsquellen haben, die Ihnen zu Gebote stehen und Sie instand setzen, meine Bitte, meine inständige und dringliche Bitte zu erfüllen!

Nicht wahr, Sie mißtrauen mir nicht? Sie haben auch die richtige Beurteilung meiner Situation und der Wichtigkeit, die meine Bitte für uns beide hat? Ich kann es dreist wiederholen: für uns beide!! –

Wie ich Sie kenne und schätze, weiß ich, Sie werden mich nicht lange in peinvoller Ungewißheit lassen, sondern mir baldigst antworten und, falls es irgend in Ihrer Macht steht, einen günstigen Bescheid senden.‘

So etwa schloß der Brief, der mir für seinen Absender ein gewisses Vertrauen abgewann.

Wieder, Maria, haben mir die Hände gezittert, als ich das Schreiben an seine alte Stelle zurücklegte, aber diesmal war’s ein Zittern vor Freude.

Ich sah einen Ausweg für Raimund, sah ihn deutlich genug vor mir! Schon die Adresse dieses Mannes, seinen Namen erfahren zu haben, war mir von unendlichem Wert – wie hätte ich wohl ohne diesen Brief dazu gelangen sollen? Am liebsten hätt’ ich mich hier zur Stelle an Vater Hagedorns Schreibtisch gesetzt und Herrn Leopold Steglhubers Brief beantwortet. Das Läuten der Hausglocke unten brachte mich auf andere Gedanken. Ich horte Stimmen im Flur – die Wirtin sagte dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0670.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2023)