Seite:Die Gartenlaube (1898) 0704.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wir von da am besten von dem Onkel aufzufinden sein würden. Dann stützte er sein Körpergewicht auf den Säbel und stand wie ein Fels im Meer, wie eine preußische Schildwache dasteht, unbekümmert, was um sie vorgeht.

Da sein Vorschlag praktisch war, denn die Ferienflut, die dem Zug entquoll, hätte das Erkennen des Onkels sonst fast unmöglich gemacht, fanden wir uns leidlich in unser Schicksal und schauten sehnsüchtig nach dem Erwarteten aus. Dabei fiel es uns aber doch auf, daß sich die Menge vor unserem Coupé im Vorbeiziehen immer etwas staute und auch, als es sich lichtete, ein Trupp Menschen vor uns stehen blieb und uns mit wachsender Neugierde betrachtete. Ein paar schadenfrohe und ein paar mitleidige Physiognomien fielen mir dermaßen auf, daß ich den Gendarm fragte, was die Leute denn eigentlich wollten.

Der Gendarm warf einen Blick um sich: „Ach so,“ sagte er, „die denken bloß, daß ich euch arretiert habe.“ Bloß – arretiert! Und das mir, der ich so viel auf das Dekorum gab. Ich sprang gewaltsam aus dem Wagen, und im selben Augenblick zerteilte auch Onkel Eugen die Menschenflut mit ausgestreckten Armen, wie ein Schwimmer. Der Hut saß ihm im Nacken und in seinen Augen malten sich Entrüstung und Entsetzen. „Kinder, Kinder!“ keuchte er, „was bedeutet das?“ Schwankend zwischen kindischer Wut, dem Verlangen, das ganze Elend dieser Fahrt mit thränenerstickter Stimme zu erzählen, und dem Drange einer Mannesseele, welche alles begreift und verzeiht, gelang es mir schließlich, mich mit Humor aus der Affaire zu ziehen. Ich reichte dem Gendarm mit verbindlichem Lächeln die Hand und sagte so laut, daß die Umstehenden es hören mußten: „Haben Sie Dank für Ihre freundliche Unterstützung!“ Und dann meinen Arm in den des Onkels schiebend, machte ich ihm so obenhin eine Erklärung, wie wir zu dem Schutze durch diesen Bewaffneten gekommen waren.

Der Onkel atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank!“ rief er und erzählte, wie er in der Menge folgende Ausrufe gehört hatte: Arretiert! Solche Bengels! Was mögen die angestellt haben, so jung und schon so verderbt! Die armen Eltern! „Und,“ fuhr er fort, „als ich schließlich nach den in Rede stehenden Jungen blicke, da sind es meine eigenen Neffen. Verleugnen hätte ich euch mögen!“

Das war unser Einzug in Berlin. Den Empfang bei Großmama will ich übergehen, auch wie wir nach und nach die Sehenswürdigkeiten Berlins besuchten. Onkel verstand das „Bärenführen“ aus dem Grunde und hatte für uns Zeit. Wir waren nicht bloß aufs zum Fensterhinausschauen, auf Tante und Großmama angewiesen; aber wenn wir mit dem Onkel zu den beiden Frauen heimkehrten, ganz erfüllt und überströmend von allem Erlebten, dann empfingen sie uns mit ihrer Liebe und einer gedeckten Tafel und machten wahre Götzenbilder aus uns, was wir uns wohlig gefallen ließen. Und selbst wenn wir des Abends kein besonderes Vergnügen, wie Besuche im Theater und Cirkus, vorhatten, gelüstete es mich nicht nach den „Nachtseiten“ der Großstadt. Ich hätte die Nase nicht mehr aus der Thüre stecken mögen, wenn die anderen drinnen um den Theetisch und die strickende Großmama saßen und Toby mit des Onkels kleinen Kindern „Post- und Reisespiel“ spielte.

Bei allem, was ich sah, war ich innig froh, daß Toby neben mir hertrabte, trotz seines schlechten Paletots und seiner schiefen Absätze; ich vergaß, mich mit meiner eigenen werten Person zu beschäftigen. Ueber all den Eindrücken, die ich empfing, dachte ich nicht mehr daran, selbst Eindruck machen zu wollen. Das große Berlin hatte mich sehr klein gemacht, in seiner gesunden Kraft wirkte das Leben, das ich wahrnahm, erhebend und reinigend auf meinen Geist, so daß all meine über Berlins interessante Nachtseiten zusammengetragene Wissenschaft davonstiebte wie Nebel vor der Sonne. Im übrigen sahen die Menschen auf den Straßen genau so aus wie daheim. Und die fragwürdigen Männergestalten, die man hier und da herumlungern sah: wenn sie die Typen der großstädtischen Kriminalromane waren, so unterschieden sich diese durch nichts von unserem Danziger Lumpengesindel! Sie fielen mir gar nicht auf, und wie hätte mein Auge nach den Verbrecherkellern suchen mögen, nachdem es sich in den Schönheiten der antiken Welt im Museum gebadet, nachdem es die abgegrabenen Schätze vergangener Völker geschaut? Ich verlebte die Ferien wie ein glücklicher Schüler, seelenvergnügt, abends mit Toby unter Großmamas Flügeln zu sitzen und alte Geschichten aus der Kindheit der Eltern zu hören.

Aber als ich am Abend vor der Abreise alles übersinnend im Bette lag, da kam auf einmal die Frage über mich: „Hast du den Berliner Aufenthalt auch recht ausgenutzt? Ist es einigermaßen so gekommen, wie du erwartet hast?“

Und trotzdem alles tausendmal schöner gekommen war, als ich erwartet hatte, regte sich die Unzufriedenheit und fing an zu nörgeln. Wie war erstens die Reise, die Ankunft so ganz, ganz anders gewesen, die Aufsichtsdame und der Gendarm hatten mich nach ihrem Willen gegängelt, während ich die Selbständigkeit hatte genießen wollen. Und in Berlin selbst, räsonnierte ich weiter, hast du irgend was erlebt, was für deine Person an sich wichtig war? Nein! Bist du einmal allein ausgegangen, so wie du es dir hundertmal ausgemalt? Nein! Hast du irgend etwas deinen Kameraden zu erzählen? Nein, denn von Schlössern und Museen und Zoologischen Gärten etc. erzählt man seinen Mitschülern heutzutage ebensowenig wie davon, daß man in Berlin zu Mittag gegessen hat! Es war doch schade, daß du es nicht ausgeführt hast, was du dir vorgenommen. Du hättest irgend etwas erleben können, was doch nach einem Abenteuer schmeckte! Und nun tauchten all die leeren Renommistereien meiner Klassengefährten auf, denen ich nie etwas hatte entgegensetzen können und denen ich nun abermals nichts zu bieten hatte, trotzdem ich mir gerade diesen Erfolg von meiner Reise hatte versprechen dürfen. Doch nun war es zu spät – zu spät! Ich war wieder, wie immer, ein artiger kleiner Junge gewesen, und das beklagte ich jetzt beinahe so sehr, wie diejenigen es später zeitlebens beklagen, denen es beizeiten geglückt ist, die Nachtseiten der Großstadt gründlich kennenzulernen. Nichts weiter als ein artiger kleiner Junge, der mit dem Onkel herumläuft, sich dankbarlichst von ihm eine Tasse Chokolade bei Kranzler bestellen läßt und abends mit kleinen Kindern um Pfeffernüsse spielt!

Doch halt – vor mir lag ja noch die lange Rückreise, konnte sich da nicht noch etwas ereignen? Die großstädtischen Verwandten dachten nicht im geringsten daran, uns einen Schutz aufzuhalsen. Mit diesem tröstenden Gedanken schlief ich ein. Doch als wir nach schmerzlichem Abschied von Großmutter in der nüchternen Morgenfrühe abfuhren, da waren zunächst alle Gedanken an Abenteuer verflogen.

Einige Stationen lagen schon hinter uns, da stürzte im letzten Augenblick eine junge Dame in unser Coupé, atemlos, mit tanzenden Löckchen. Ich half ihr beim Verstauen ihres Gepäckes, ich sah sie an, und ich fragte mich: „Sollte dies dein Abenteuer sein?“

Sie war reizend; nicht größer als ich, leicht wie ein Vogel, mit rosigen Wangen, roten Lippen, Perlenzähnen, und der keck aufsitzende Hut, der auffallend große spanische Kragen an dem grünen Tuchkostüm, paßte das nicht alles zu einem Abenteuer? Und zu dieser, nur im Interesse der Renommage den andern Jungen gegenüber, gestellten Frage kam mit der Zeit ein reines Wohlgefallen an ihr selbst, als sie sich mit ihrer angenehmen Stimme in eine Unterhaltung mit mir einließ. Es interessierte sie sehr, daß wir das gleiche Ziel hatten. Dann brachte sie das Gespräch auf die Danziger Schulen, ein Gespräch, das ich gern vermieden hätte, denn es wäre mir lieb gewesen, wenn sie mich für einen Erwachsenen gehalten hätte. Sie hatte es aber gleich weg, daß ich noch ein Junge war und auch in welches Gymnasium ich ging, in welcher Klasse ich saß. Und dann brachte sie mich in das richtige Fahrwasser: ich zog über unsre Lehrer her; ich schilderte ihr das Gymnasium mit Mann und Maus. Am längsten verweilten wir bei meinem künftigen Klassenlehrer, bei dem auch ich schon in ein paar Fächern Stunden gehabt hatte. Den mußte ich ihr besonders interessant geschildert haben, denn sie kam immer wieder auf ihn zurück, und ich häufte auf ihn all die schiefen Urteile, welche die Spottlust der flüggen Jugend sich bildet, und erzählte ihr von seinem Spitznamen, von all dem Ulk, den wir mit ihm anstellten, und all die überreizten, aus der Langweile geborenen, pointenlosen Schulanekdoten, die gerade diesen Lehrer wie eine Gloriole umgaben.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 704. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0704.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)