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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Da bin ich auch zu Hause.“

„Eben diese Bergführer und Wildschützen und was es alles für Menschen sind – die haben einen verwandten Zug mit Ihnen – namentlich in den Augen. Dieser weite, suchende, unstete Blick. Nur natürlich ist bei Ihnen alles vergeistigt. Der Gelehrte schaut hindurch.“

„Ja, leider!“ sagte er, ohne seine halb von ihr abgewandte Stellung zu ändern. „Mein Leben hat der Wissenschaft gehört. So heißt es wenigstens, und halb mit Recht. Denn es giebt wenige Winkel der Erde, wo ich nicht Schädel gemessen und Trigonometrie getrieben und meinen Hypsothermometer ausgepackt hab’. Aber glauben Sie mir: schließlich ist die Wissenschaft doch nur ein Mantel für mich und viele meinesgleichen. Wir werfen ihn um, weil wir uns schämen, uns und der Welt einzugestehen, daß wir eigentlich nur aus reiner, unbezwinglicher Abenteurerlust, aus Freude an einem ganz ungebundenen Dasein uns unser Leben um die Ohren schlagen. Da liegt die Verwandtschaft mit Gemsenjägern, Wildschützen und derlei. Die haben es meist auch nicht nötig. Es ist nur die Lust am Wagnis, an der Gefahr, was sie hinaustreibt. Mich auch. Wie ich Ihnen schon gesagt hab’, ich bin eigentlich ein halber Wilder. Und wann darf ich mich denn nun endlich rühren?“

„Jetzt!“ sagte sie und reichte ihm das Blatt.

„Da sind Sie!“

„Aber geschmeichelt!“

Er schüttelte den Kopf.

„Daran merkt man die weibliche Hand.“

„Sie sehen ja auch nicht immer so schlecht aus wie jetzt, sondern hoffentlich besser, wenn wir uns einmal im Leben wieder treffen. Denn für jetzt,“ sie wies auf die Mauren, die das Gepäck der drei Schwestern aus der Herberge zu den bereitstehenden Maultieren trugen, „… für jetzt trennen sich unsere Wege. Wir gehen nach Tanger zurück!“

„O wirklich?“ sagte er in gleichmütigem Ton. „Und bald?“

„Jetzt gleich! Sie brauchen mich ja nicht mehr und der Aufenthalt hier . . .“

„Ich glaube gar, Sie wollen sich noch entschuldigen!“ Er sah sie erstaunt an. „An mir ist es, Ihnen zu danken. Für alles. Sobald ich kann, reite ich auch nach Tanger. Aber ich fürchte, das dauert noch einige Tage und ich finde Sie nicht mehr dort!“

Sie erwiderte nichts.

„Und das Päckchen für Berlin haben Sie mit sich?“

„Ja.“

„Nun, dann will ich wieder gehen und mich hinlegen. Also nochmals besten Dank und gute Reise!“


9.

Weit in der Ferne, vom blauen Himmel überwölbt, lag auf dem Rücken der Berge eine weiße Häusermasse, die mit ihren sich terrassenförmig abstufenden Dächern bis zu dem unsichtbaren Meere hinabstieg, Tanger, der Berührungspunkt Marokkos mit abendländischer Kultur.

Davor das breitgewellte Steppenthal des nach Tingis rinnenden Flusses, mageres, sonnenverbranntes Weideland, das Gebrüll grasender Rinder, das leichte Rauschen des Windes in zitterndem Gras, das Wehen der Einsamkeit und Oede.

Und doch lebte und wimmelte es an einer Stelle dieser kahlen Fläche und schob sich als ein Gewirr von Hunderten von braunen Gestalten durcheinander, die in ihren fahlen Gewändern, ihrer Massenhaftigkeit der Erde selbst entsprossen zu sein schienen. Denn nirgends war eines der von kleinen Saatstücken und Baumgruppen umgebenen Berberdörfcr, nirgends eine Hütte oder auch nur ein Zelt oder sonstiges Obdach zu sehen. Das Geplätscher des zur Seite zwischen Weidenbüschen hinrauschenden Baches schien allein die Eingeborenen veranlaßt zu haben, gerade hier, inmitten der Wüste, jeden Donnerstag ihren großen Markt abzuhalten.

Ein seltsames Bild! Unter dem brennenden Himmel die zerlumpten, wildblickenden Nomaden, die lange Steinschloßflinte in der Hand, die Hammel- und Ziegenherden um sich, unverschleierte, in braune Mäntel gewickelte Berberfrauen daneben, mit ihren Körben voll Eier, ihren Hühnern und den Haufen halbnackter Kinder, selten einmal ein bunter Turban in dem Gewoge kahlgeschorener, bezopfter und mit Ohrbüscheln geschmückter Schädel – das Ganze farblos und düster in seinem Durcheinanderraunen und Zischeln, dem Huschen bloßer Füße, dem unvermittelten Getriebe von Mensch und Tier inmitten der weiten Heide.

Die drei Damen ritten beklommen hindurch, von finsterneugierigen Augen verfolgt, und atmeten erst freier auf, als der Wüstenmarkt in ihrem Rücken lag und nur noch der Wind zuweilen einen Hahnenschrei, ein paar zornige Worte oder das Gewieher eines Rosses herübertrug. Es war still zwischen ihnen, seit sie am Tage vorher Tetuan verlassen und diesmal unter ihrem Zelt eine leidliche Sommernacht in El-Fondak zugebracht hatten. Auf jeder lastete etwas in anderer Weise und hieß sie schweigen.

Am Wege stand, mit langem Seile festgepflöckt, ein prachtvoller arabischer Schimmelhengst und starrte mit gespitzten Ohren und feurigen Auges die Europäer an, daß die Soldaten wohlgefällig lächelten und der Hotelkurier sich grinsend zu Klara umwandte, um sie auf das schöne Tier als „eine Mohrenkuriosität“ aufmerksam zu machen.

Aber heute sah die blonde Malerin nicht rechts noch links. Sie ritt dahin, als ob sie all diese Dinge gar nichts mehr angingen, und wenn auch ihr Gesicht ruhig und hübsch war wie immer, so entging doch ihre Blässe und Schweigsamkeit selbst dem Mauren nicht. Kein Wunder freilich nach der anstrengenden Reise, bei schlechtem Wetter und noch schlechteren Quartieren; die britischen Offiziere selbst, die von Gibraltar kamen, nannten diesen Ritt ein „rauhes Werk“. Und nun gar erst für Damen! Da hatte die Lady wohl recht, so sehnsüchtig in die Ferne zu schauen, als hoffe sie da jeden Augenblick die wieder hinter den Hügeln verschwundene weiße Stadt Tanger in nächster Nähe auftauchen zu sehen.

Aber die Lady schaute mit ihren inneren Augen etwas anderes in der Ferne, etwas, das ihr seit gestern fortwährend vor den Sinnen stand, so greifbar, so körperlich, daß sie es da förmlich vor sich zu erblicken glaubte, wie es langsam über die Steppe hinritt, in der trotzigen Gestalt eines europäischen Forschungsreisenden, mit dessen dunklen Schnurrbartenden der Wind spielte, – hinter ihm, braun und schweigsam, mit brennend rotem Fez, sein marokkanischer Diener.

Sie erschrak, so deutlich sah sie das alles auf der von der Sonnenglut überzitterten Heide. Es war wie eine Vision. Sie schloß die Augen, um das Bild los zu werden.

Aber fast zugleich brach Hilda hinter ihr das trübe Schweigen, in dem die Gedanken der Kleinen wehmütig nach Tetuan zurück und voll Wiedersehenshoffnung nach Gibraltar und in krausem Durcheinander vom Blutegelexport zum Pesetakurs wanderten und über das Ganze hin gebieterisch ein blonder Vollbart mit altvernarbten Schmissen darunter wehte.

„Jetzt da hört doch alles auf!“ sagte sie verdutzt. „Ich muß mir wahrhaftig die Augen reiben, ob das wahr ist!“

„Was siehst du denn?“ Die Malerin hielt die Wimpern gesenkt. Ein plötzlicher freudiger Schrecken zog ihr Herz zusammen.

„Na, ihn seh’ ich!“

„Wen denn?“

„Ihn! Deinen Afrikaner! Weiß Gott .. da reitet er. Es ist gar kein Zweifel: er ist’s. Jetzt hat er unsere Stimmen gehört. Er dreht sich um! Siehst du wohl …“

„Aber ein Mensch kann doch nicht an zwei Orten zugleich sein!“ tönte vom Ende des Zuges der Baß der Gouvernante. „Liebe Kinder … das ist unheimlich. Am Ende giebt’s hier Wüstengespenster!“

In Marokko war freilich vieles möglich! Die Damen bekamen etwas Angst. In banger Neugier ließen sie sich von den Maultieren vorwärts tragen, dem Fremden zu, der ihnen jetzt in kurzem Galopp entgegenkam. Der Leib seines Pferdes war glänzend naß von Schweiß.

„Guten Morgen!“ sagte er gleichmütig und lüftete die Kappe. „Darf ich fragen, warum Sie mich so erwartungsvoll anschauen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0718.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)