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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

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Die Einweihung der ersten Strecke der Jungfraubahn.

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Jungfraugipfel mit dem projektierten Turm des Aufzugs.

Von Mitte Juli bis gegen Ende September dieses Jahres waren Wolken am Berner Himmel eine nahezu unbekannte Erscheinung. Mit goldenen Strahlen brannte die Sonne Tag um Tag ihren Segen auf die wogenden Kornfelder, auf die FrüchtederObstgärten, derklärte die Berggipfel mit ihrem Glänze und ließ Tausende und aber Tausende die Alpenpracht schauen.

Um so größer war das Erstaunen, ja die Entrüstung, als das himmlische Gestirn gerade am 19. September sich nicht zeigen wollte. Bei tadellosem Wetter hatte sich im Laufe des achtzehnten, eines Sonntags, eine mehr als vierhundertköpfige Taufgesellschaft in Jnterlaken eingefunden, um dem jüngsten Kinde Guyer-Zellers, der Jungfraubahn, zu Gevatter zu stehen. Mit einer Gastfreundlichkeit, die ihresgleichen sucht, hatte der Vater des Täuflings Vertreter fast aller Kreise der Schweiz eingeladen. Neben Männern des Eisenbahnwesens und der Elektrotechnik sah man Professoren der Philologie, der Theologie und Geschichte, alt- und römisch-katholische Geistliche neben reformierten Pfarrern, Spitzen der Finanz in trautem Verein mit Handels- und Gewerbetreibenden, Vertreter der bei der Eidgenossenschaft accreditierten Gesandtschaften und einheimische Staatsmänner versammelt. Nur ein Element, das weibliche, fehlte fast ganz; wahrscheinlich, weil man fand, dasselbe sei durch die Hauptperson, die Jungfrau, genügend vertreten. In um so stattlicherer Zahl war die achte Großmacht, die Presse, aufmarschiert. Nicht nur die der Schweiz. Auch die bedeutendsten Blätter des Auslandes hatten ihre Delegierten gesandt. – Besonders um dieser Weithergekommenen willen wurde einem etwas schwül zu Mute, als sich am Sonntag Abend ein Gewitter zusammenzog. Und in der That, als am nächsten Morgen um sieben Uhr die Gesellschaft in zwei Extrazügen ins Lauterbrunnerthal hineinfuhr, war alles grau verhängt – ein lange nicht dagewesener, heute geradezu niederdrückender Anblick! Als in Zweilütschinen, wo das Thal sich gabelt, links nach Grindelwald, rechts nach Lauterbrunnen, der Zug eine Weile hielt, sah man an der schwarzen Wand des Wetterhorns von dessen verhülltem Gletscherhaupt während mehrerer Minuten den breiten Strom einer Lawine sich herabstürzen, ein böser Strich durch unsere Hoffnung, daß es sich aufheitern werde: die weichen, lawinenlösenden Winde sind keine Freunde des Bergsteigers.

In Lauterbrunnen kamen wir auf etwas andere Gedanken. Hier beginnt das Riesenwerk der Jungfraubahn, über deren Plan die „Gartenlaube“ bereits im Jahrgang 1895, S. 316, ausführlich berichtet hat. Am Ufer der tosenden Lütschine hin zieht sich die aus Stahlrohren, durch die ein Mann aufrecht gehen könnte, gebildete Wasserleitung von 1300 Metern Länge und 40 Metern Gefälle, welche einen Teil des Bergstromes in das Turbinenhaus führt und hier die 2400 Pferdekräfte erzeugt, die, in Elektricität umgesetzt und in die Höhe geleitet, oberhalb der Scheidegg die Bohrmaschinen treiben, die Beleuchtung erzeugen, die Luft im Tunnel reinigen, im Winter durch Schmelzen des Schnees für das nötige Wasser sorgen und demnächst die Bahnwagen zur Höhe der Jungfrau heben werden. Bis jetzt ist nur die erste, etwa zwei Kilometer lange Strecke der Bahn von ihrem Ausgangspunkte, der Kleinen Scheidegg, bis zur Station „Eigergletscher“ fertiggestellt.

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Station Eigergletscher mit dem Festplatz.
Nach einer Aufnahme von Photograph Gabler in Interlaken.

In kürzester Frist hat das Umsteigen aus unseren zwei Zügen in die von je einer Lokomotive geschobenen Einzelwagen der Wengernalpbahn stattgefunden, und bald keucht in kurzen Zwischenräumen ein schnaubendes Dampfungetüm nach dem andern an den senkrechten Felswänden und über Quadernviadukte zu der Terrasse von Wengen empor. Hier, über den grünen, häuserbesäten Matten, öffnet sich sonst eine der schönsten Aussichten des Oberlandes: geradeaus die silberglänzende Jungfrau, rechts der herrliche Thalabschluß durch die Eiswände des Breit- und Großhorns. Heute senkt sich, einem Alp gleich, der Nebel tiefer und tiefer, und mein Nachbar, der zum erstenmal hierher kommt, zieht sein Gesicht in immer melancholischere, immer ungläubigere Falten, je anschaulicher ich ihm zu schildern versuche, was alles man sonst hier sieht. Eben will ich ihm noch Mürren jenseit der Thalkluft zeigen, da fahren wir plötzlich mit den Köpfen in die Nebeldecke und – verschwunden ist die Welt. Rings nichts als eine weiße Wand. Auf der Wengernalp verlassen ein paar deutsche Damen, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören, den Wagen. Wir begleiten sie mit Gefühlen innigen Mitleids, als ob sie auf einer unbewohnten Insel des Weltmeers ausgesetzt würden. – Station Scheidegg! Alles aussteigen! Hier beginnt der Schienenstrang der elektrisch betriebenen Jungfraubahn, während die Wengernalpbahn nach Grindelwald hinunterführt. Der von Grindelwald heraufwehende Luftzug hat hier etwas aufklärend gewirkt. Man erkennt doch das mit Fahnen und Guirlanden geschmückte Stationsgebäude und entdeckt ohne Mühe das mit Butterbroten beladene Büffett. Und da steht er ja auch selber, der Mann mit dem unverwüstlichen Glauben an sein Werk. Auf seinen Locken schimmert das Silber des Sechzigers: seine breiten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0728.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2023)