Seite:Die Gartenlaube (1898) 0731.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

war. Nicht einmal der „Engländer“, der doch jetzt Herr über die ganzen Werke war und alles zu bestimmen hatte, war den Arbeitern so unbehaglich wie der „Schwarze“. Sie machten sich wohl gelegentlich ein bißchen lustig über Mr. Whitemores geschniegelten Anzug, seine steife englische Würde, aber seine Gegenwart fiel ihnen doch nicht so „auf den Magen“, wie sie das nannten. Harnacks beständig finstere, unfrohe Miene, der brütende Ausdruck seiner dunklen Augen war den Leuten unbehaglich, und seine Manier, jeden Befehl, jede Anordnung nur mit einzelnen hervorgestoßenen Worten zu erlassen, die Betreffenden nie dabei anzusehen und jeden kleinsten Fehler, jede leiseste Abweichung von seinen Verfügungen aufs strengste zu rügen, alles dies trug nicht dazu bei, die Abneigung der Arbeiter zu mildern. Oberingenieur Harnack war die unpopulärste Person der gesamten Werke, und alle wären froh gewesen, wenn man ihm hätte etwas „am Zeug flicken“ können, was seine bevorzugte Stellung erschüttert oder gar aufgehoben haben würde. Davon war aber keine Rede, er war hochbegabt und tüchtig für zehn, das mußten ihm selbst seine vielen Feinde lassen.

Daß Jngenieur Harnack einen jüngeren Bruder hatte, der nichts taugte, hatten einige schon früher in Erfahrung gebracht und es selbstverständlich den Kameraden mitgeteilt, so daß es wie ein Lauffeuer herum gewesen war. Die Leute waren schadenfroh genug gewesen, diesen Familienschatten dem unbeliebten Vorgesetzten von Herzen zu gönnen: es war ihm sehr gesund, daß er es an seinem eigenen Leibe erfuhr, wie es thut, Kummer und Schande zu erleben.

Nach Josephsthal, das wußten die Eingeweihten, durfte dieser jüngere Harnack nicht kommen, wenigstens nicht zu Baron Hofmanns Lebzeiten – der verstand keinen Spaß in Bezug auf zweifelhafte Redlichkeit und schlechten Lebenswandel! Einmal war das Gerücht aufgetaucht, der junge Mensch wäre flüchtig in der Kolonie gesehen worden; da es aber fast zugleich hieß, der Oberingenieur habe Urlaub erbeten, um seinen Bruder von Hamburg auf Nimmerwiedersehen nach Amerika zu spedieren, so glaubte man, die Betreffenden, die ihn hier gesehen haben wollten, müßten sich geirrt haben, und das Gerücht schlief alsbald wieder ein. Doch neuerdings war auch dieses wieder neu aufgelebt. Vielsagende Worte, die von einzelnen aufgefangen wurden, wie „Nur angeblich nach Amerika gegangen“ – „Bruder keine Ahnung gehabt“, wurden auf den Bruder Harnacks bezogen. Ein Arbeiter von der Walzmühle wollte sogar Genaueres aus einem Gespräche erlauscht haben, das vor kurzer Zeit Justizrat Ueberweg mit Herrn Hagedorn auf offner Straße geführt hätte, wobei wiederholt von Harnack dem jüngeren die Rede war. Die Herren wären so erregt gewesen, daß sie sein Vorübergehen gar nicht gemerkt hätten. –

Es war Feierabend. Die großen Glocken in den verschiedenen „Werken“ hatten ihre Schuldigkeit gethan und den ermüdeten Arbeitern verkündet, daß es für heute genug sei an Fleiß und Anstrengung. Die immer gern gehörten Glockenstimmen wurden heute mit besonderer Freude begrüßt, denn es war ein überaus schwerer Tag gewesen. Drückende Schwüle lagerte draußen, die Sonne sengte unbarmherzig, die Hitze war in die Fabrikräume gedrungen und machte den Aufenthalt sowohl in denjenigen Sälen, wo die großen Dampfmaschinen in Thätigkeit waren, als auch in denen, wo mit riesigen Mengen grob- oder feingemahlenen Mehles hantiert werden mußte, beinahe unerträglich. Ein paar schwächliche blutarme Frauen waren von Schwindel befallen worden und mußten die Arbeit einstweilen aussetzen – – auch die robusten und die größeren Mädchen, die schon zur Fabrikarbeit zugelassen wurden, klagten über Flimmern vor den Augen und Stechen in den Schläfen. Große Kübel mit Wasser standen in den Gängen bereit, aber das häufige Waschen wollte nichts helfen – im Gegenteil, es vermehrte nur noch die Glut!

Jetzt strömten die ermatteten Scharen in hellen Haufen ins Freie. Die von der Schneidemühle thaten es am langsamsten und verdrossensten. Sie hatten die Kunde zugetragen bekommen – man erfuhr immer alles in der Kolonie Josephsthal! – daß das Personal von der Walzmühle wie von der Oelmühle heute lange Pausen während der Arbeitszeit hatte machen, später als sonst nach Tisch hatte anfangen dürfen; die betreffenden Direktoren hatten das so verfügt. In der Schneidemühle, wo Oberingenieur Harnack regierender Herr war, hatten es die Leute nicht so gut gehabt. Wenn es möglich war, daß der Ingenieur sich noch finsterer, unzugänglicher und strenger zeigte als sonst, so war es an diesem Tage der Fall gewesen. Kaum ein Wort fiel von seinen Lippen, aber sein wachsames Auge lag unausgesetzt auf den Leuten, ließ sie gleichsam nicht los, er selbst stand mitten im glühenden Dampf und betäubenden Lärm neben der großen Treibmaschine, die Hitze schien ihm nichts anzuhaben, und der unerbittliche Zug um seinen Mund, die tief eingegrabene Falte auf seiner Stirn sprach deutlicher als Worte: Was ich kann und leiste, das müßt ihr ebenfalls können! Ich halte aus und arbeite, thut ihr desgleichen! – – – Sie thaten es, die in Schweiß gebadeten, abgespannten Menschen, aber jetzt, da es Feierabend war, kam die lange unterdrückte Entrüstung zum Ausbruch, und Worte, wie „Nichtswürdige Schinderei“ – „Nicht gefallen lassen“ – „Beim Engländer beschweren“ fielen hageldicht von den Lippen der mühsam atmenden, keuchenden Leute, die begierig die Luft im Freien einsogen, ohne doch besondere Erquickung zu spüren, denn es war auch jetzt noch drückend heiß. Ein schwüler Brodem lastete über der Landschaft, kein Blatt rührte sich, die Sonne stand in einem Dunstkreise von stechendem Gelb, darunter baute es sich auf wie ein schieferblauer Wall. Vielleicht kam zur Nacht ein Gewitter!

Ingenieur Harnack verließ als der letzte die Schneidemühle. Die Maschinen waren abgestellt, er machte, wie gewöhnlich, die Runde, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war.

Indem er aus dem gewaltigen, langhingestreckten Gebäude hinaustrat, schweifte sein finsterer Blick über die Leute, die in größeren und kleineren Gruppen in bereits ziemlich beträchtlicher Entfernung vor ihm hergingen, und es war, als wüßte er genau, was und über wen sie jetzt sprachen, denn sein Mund verzog sich verächtlich und seine niederhängende Linke ballte sich. Aber nicht den Arbeitern allein galt dieser düstere Blick, diese geballte Faust. Etwas anderes noch war es, was in der Seele dieses Mannes vorging, ihn diese letzten Stunden hindurch schwer bedrückt hatte, etwas, wofür er sich Gewißheit zu verschaffen trachten mußte, Gewißheit – und käme hinterher, was da kommen wollte!

Absichtlich zögernd und langsam, um den vor ihm herschlendernden Arbeitern einen weiten Vorsprung zu lassen, ging der Ingenieur weiter die Dorfstraße entlang und schlug dann einen Querweg ein, der zu der Häusergruppe führte, in welcher Hagedorn seine Wohnung hatte.

Es war ein ganzes Stück bis dorthin zu gehen. Harnack aber war derartig in seine Gedanken versunken, daß ihm der Weg viel kürzer als sonst erschien, und er stutzte, als plötzlich die Klänge eines Klaviers an sein Ohr trafen. Er war an dem Hause, in welchem sein alter Widerpart wohnte. Die Fenster im Erdgeschoß standen offen. Der durchsichtige Store war beiseite geschoben, man konnte von draußen ungehindert in das mäßig große Zimmer hineinblicken. Der Flügel war quer gegen das breite Fenster gestellt, auf Kosten der übrigen Möbel und der Symmetrie des Zimmers – man sah, das Pianoforte hatte hier die erste Rolle, und alles andere war Nebensache.

Raimund Hagedorn, in einem leichten Rock von heller Bastseide, Blusenhemd und Tennisgürtel, spielte ganz selbstvergessen, aller Hitze zum Trotz.

Der Oberingenieur zog hastig die Thürglocke, und ihr greller, profaner Mißton ließ den Spieler aufspringen, wie wenn ihn eine Kugel getroffen hätte. In seinen blauen Augen wetterleuchtete es zornig über den „Kunstbanausen“, der nicht einmal hatte warten können, bis der Satz beendet war. Mit raschen Schritten ging Raimund vom Klavier fort, zur offenstehenden Stubenthür hinaus und durch den schmalen Korridor. Er riß den Flügel der Hausthür mit Heftigkeit zurück und sah dem unwillkommenen Störenfried mit einer Miene ins Gesicht, die deutlich genug von seinen Empfindungen Zeugnis ablegte.

„Herr Oberingenieur Harnack!“ stieß er erstaunt heraus. „Was verschafft mir die – das –“

Raimund stockte. Denn er empfand diesen Besuch, gerade diesen, weder als eine Ehre, noch als ein Vergnügen, und es widerstrebte ihm, auch eine dieser landläufigen Redensarten, die niemand wörtlich nimmt, die längst zur hohlen Formel herabgesnnken sind, hier in Anwendung zu bringen. Er vollendete daher den begonnenen Satz damit, daß er mit einer einladenden Handbewegung zum Zimmer hin sagte: „Darf ich Sie ersuchen, näher zu treten?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0731.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2023)