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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Folge davon war, daß sie früher aufwachte und, halb gegen ihren Willen, den Reiz der Morgenstunden kennenlernte. Freilich nicht der allerfrühesten Morgenstunden, aber auch das wollte sie jetzt zuweilen thun. Die Majorin hatte ihr erklärt, so alt sie geworden sei, habe sie, die Großstädterin, noch nie einen Sonnenaufgang mit angesehen, und nun hatten beide Damen beschlossen, sich einmal dies herrliche Schauspiel zu gönnen.

James hatte Befehl erhalten, die Damen zeitig zu wecken, wenn der nächste schönes Wetter verheißende Tag anbräche. Zweimal hatte der vortreffliche Diener das nicht können, denn am Montag regnete es in der Nacht, und am Dienstag sah das Wetter zweifelhaft aus. Heute, Mittwoch, war der Horizont ganz klar, ein kaum merkbarer Wind fächelte in den Zweigen, das Wetterglas war gestiegen.

Françoise hatte es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein, obschon sie Naturschauspielen keinen besonderen Wert beizulegen vermochte – schöne Läden und elegant geputzte Menschen waren ihr lieber. Indessen, wenn Mignonne sich diese Marotte in den Kopf gesetzt hatte, mußte Françoise sie mitmachen.

Innerlich ziemlich schlechter Laune, mit sehr kleinen, verschlafen blinzelnden Augen, erschien Françoise im Gartensaal und war nicht wenig erstaunt, Alix daselbst schon vorzufinden, und zwar vollständig frisiert und im Reitkostüm.

„Ah, Sie wollen reiten?“

„Gewiß! Ich will im Anschluß an den genossenen Sonnenaufgang einen Ritt durch den Wald unternehmen!“ sagte das junge Mädchen in resolutem Ton. „Nun bitt’ ich mir aber eine freundliche Miene aus!“ fügte sie gutlaunig hinzu. „Wir bekommen einen herrlichen Tag, und James wird uns noch eine Tasse Kaffee servieren, ehe wir zum Birkenhügel gehen!“

Frau von Sperber, welche jetzt, von James mit den Kaffeetassen begleitet, erschien, war gleichfalls erstaunt über Alix’ Toilette.

„Gehen Sie ruhig, nach gehabtem Naturgenuß, wieder zu Bett, liebe Frau von Sperber,“ bat das junge Mädchen, „nur gönnen Sie mir meinen Waldritt.“

„In Gottes Namen, liebste Alix. Falls Sie nur nicht von mir verlangen, daß ich mich auch zu Roß schwinge und mit Ihnen reite, gönne ich Ihnen alles und jedes. Eine Bedingung freilich hab’ ich dabei: Sie dürfen nicht ohne Begleitung in den Wald!“

„Wenn ich ,Rebell‘ mit mir nehme –“

„‚Rebell‘ ist ein sehr starker und sehr treuer Hund, aber durchaus kein genügender Schutz. Wenn Sie nicht James mithaben wollen, so muß es der Groom sein. Sie müssen mir schon erlauben, Sie daran zu erinnern, daß ich hier die Stelle einer Mutter einnehme – – wenigstens, was Fragen wie diese betrifft. Glauben Sie, daß Ihre Mutter Ihnen diesen einsamen Ritt durch den Wald, unmittelbar nach Sonnenaufgang, gestattet hätte?“

„Nein!“ erwiderte Alix unmutig. „Wenn es sein muß ...“

Frau von Sperber sagte kein Wort weiter. Alix erschien ihr unbegreiflicher als je! Hatte denn die Erinnerung an das Ende ihres Vaters alle Schrecken für sie verloren? Sie drängte den peinlichen Gedanken zurück, goß anscheinend heiter den Kaffee aus der zierlichen Silberkanne in die Tassen, bot den Zucker herum, sprach von der erfrischenden Morgenluft und daß es doch kein Gewitter in dieser Nacht gegeben habe, so drückend es gestern gewesen.

Man sah nach der Uhr, fand, daß es gleich Zeit sei, und beeilte sich mit dem Trinken, um rechtzeitig beim Birkenhügel zu sein. Alix ließ sich von James das flache Reithütchen, die langen weichen Lederhandschuhe und die Reitpeitsche reichen, während sie ihr Kleid zum Gang durch den Park hochzog. „Rebell“ wurde hereinbeordert und sprang wie toll an seiner Herrin empor.

Als Alix dem zurückbleibenden James, halb über die Schulter zurückgewendet, im Gehen zurief: „Also an der kleinen Pforte soll der Groom mit ,Primrose‘ und dem Braunen auf mich warten!“ sagte Frau von Sperber wiederum nichts, aber ein freundliches, warmes Licht kam in ihre klugen Augen, die beifällig auf Alix sahen.

Draußen webte ein zartes, weißliches Licht um die Baumstämme. Verschlafene Vogellaute tönten hier und da aus dem Blätterdach, aber noch saßen die kleinen Sänger zusammengeduckt im Gezweig und rührten sich nicht.

Keiner von den drei Dahinwandelnden sprach. Einmal während des Gehens neigte sich die Majorin über ein Blumenbeet und brach eine köstliche, halb erblühte weiße Moosrose, neben der noch ein paar Knospen waren, sowie grüne, herbduftende Blätter. Der Tau lag in dicken Perlen darauf. Die alte Dame hielt das Sträußchen einen Augenblick von sich zurück, wie um sich an dem lieblichen Anblick zu erfreuen, und steckte es dann ohne weiteres zwischen zwei Knöpfe des Reitkleides an Alix’ Brust, Was diese lächelnd geschehen ließ.

Françoise wollte zu reden beginnen – ihre Herrin gab ihr einen bittenden Wink mit den Augen, sie möge es lieber unterlassen. Wozu denn immer sprechen? Es war so viel schöner, in sich selbst hineinzuhorchen und zu staunen! Und jetzt war man beim Birkenhügel angelangt. Alix selbst hatte diesen schönen, hochgelegenen Platz entdeckt, einige Bäume fällen, eine kleine Laube herrichten und die Aussicht frei legen lassen; sie war sehr stolz auf diese That und konnte es sein, denn der Blick von hier war überraschend schön. Der Birkenhügel beherrschte den Fluß, der sich hier verengte, so daß man das jenseitige Ufer bequem übersehen konnte. Es waren nur die neuerbauten Arbeiterhäuser zu erblicken; die Fabrikschlote wurden durch eine Krümmung des Flusses dem Auge entzogen. Rechts dehnte sich eine mäßig hohe Hügelkette in anmutigen Wellenlinien hin, zur Linken schloß dunkler Waldbestand, der sich in weitem Bogen herumzog, das Rundbild ab.

Schon färbte sich’s glühend rot im Osten. Kein Wölkchen, so weit das Auge reichte – nur in langhingezogenen sanften Linien die Streifen, die den Osten umsäumten. Diese begannen jetzt eine seltsame purpurbläuliche Farbe anzunehmen, während unmittelbar über dem Horizont in wunderlich abgeplatteter Form der obere Rand der Sonne hervorsah – Helios fuhr in seinem goldenen Wagen herauf! Und wie sich die Sonne mehr und mehr hob und zu strahlen begann, da goß sich ein Meer von rotem Licht über Wald und Berge und Häuser und spiegelte sich – ein entzückender Anblick – im ruhig gleitenden Fluß.

Frau von Sperber, ganz hingenommen von dem prächtigen Schauspiel der aufgehenden Sonne, kann doch nicht umhin, rasch und verstohlen immer wieder auf Alix zu blicken. So schön und so bewegt! Ein mitfühlender Seufzer hebt die Brust der alten Dame. Ach, es ist doch etwas Köstliches um Jugend und um Liebe! Gott wolle alles zum besten lenken!

Françoise hat es auch recht schön gefunden, was sie da gesehen hat, aber nun hat sie es satt – überdies blendet sie all die Farbenpracht. Auch daß so viel Nässe von den Zweigen auf sie herniedertropft, findet sie nicht gerade angenehm; wenn man jetzt heimginge und sich wieder zu Bett legte! Aber Mignonne steht wie verzaubert da und rührt sich nicht!

„Rebell“ denkt ähnlich wie die Französin. Müde ist er zwar nicht, und von Ruhe will er nichts wissen – im Gegenteil! Aber dies stumme Ausharren wird ihm unerträglich. Er hat sich dem gebieterischen „Nieder – nieder! Süll sein!“ seiner jungen Herrin bisher gefügt, hat seinen großen, schönen Kopf auf die Vorderpfoten platt hingelegt und mit einem blinzelnden Blick den Sonnenaufgang über sich ergehen lassen. Nun aber ist’s genug! Er beginnt sich zu dehnen, gähnt gewaltig, springt mit einem entschlossenen Ruck auf und bellt zweimal in kurzen, auffordernden Lauten mit seiner groben Bruststimme.

„Ja – ja!“ sagt Alix, wie aus tiefen Gedanken heraus. „Man muß sich losreißen – der Groom wird mit den Pferden schon warten. Also Adieu, liebe Frau von Sperber – war’s nicht wunderschön? Und du, Françoise, kriech’ nur schleunigst wieder in dein Lager zurück, du siehst polizeiwidrig müde und verschlafen aus. Komm, ,Rebell‘!“ Sie nimmt den Hund, der freudig vorausspringen will, beim Halsband, nickt den Zurückbleibenden zu und steigt den Hügel hinab.

An der kleinen Pforte wartet der Groom. Er reitet denselben Lichtbraunen, den Raimund Hagedorn damals bei seinem Spazierritt mit der schönen Cousine hatte; jetzt ist der Mensch wie ein Blitz aus dem Sattel und führt „Primrose“ vor, die ihre Nüstern bläht und den Kopf aufwirft, zum Zeichen, daß ihr der Gedanke an den bevorstehenden Ausflug behagt.

Im Nu ist Alix oben; sie setzt sich zurecht und ordnet die Zügel, während „Rebell“, jetzt unbehindert, mit großen Sprüngen Roß und Reiterin umkreist und dazu bellt, daß es weithin schallt.

„Wir nehmen zunächst im Bogen herum flaches Land, und dann erst links hinüber in den Wald,“ spricht Alix über die Schulter zurück zum Groom. „‚Primrose‘ ist unruhig, und ich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0734.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2023)