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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Ja!“ nickt Paul Semmling wichtig. „Unser Doktor war da!“

„Doktor Petri? Und was – was that er?“

„Er kniete sich bei ’n Herrn Hagedorn auf die Erde, und dann riß er ’m den Schlips auf und oben die West’ und das Hemd – und dann hat er ’n behorcht, ob er noch Leben hat!“

„Und – und – fand er noch Leben?“

„Weiß nich! Der Herr Hagedorn lag man so da, ganz für tot, und regt und rippt sich auch kein bißchen. Und die Augen waren ihm ganz zu.“

Alix fragt nichts weiter. Sie stößt ungeduldig die herabhängenden Zweige beiseite und zerrt den Hund am Halsband zurück, aber das geschieht ganz mechanisch. Sie ist kaum fünf Minuten gegangen, und doch ist es ihr, als ginge sie schon stundenlang durch den Wald, Raimund Hagedorn zu suchen, der im Duell gefallen ist, und als wüßte sie es schon seit Tagen, daß er einen Zweikampf gehabt mit Ingenieur Harnack.

Vor ihnen liegt eine ziemlich steile Anhöhe, von dunklem, dichtem Tannenbestand umsäumt. Der Junge klimmt wie eine Gemse da hinauf. Alix ist es einmal, als höre sie Stimmengemurmel.

„Ist es hier?“

„Ja. Das sind ja doch die Kesseltannen!“

Wenn man sich in die Höhe gearbeitet hat, steht man in Wahrheit vor einem regelrecht gebildeten Kessel, den rund herum hohe und meist schön gewachsene Tannen umziehen. Den Boden dieses sogenannten Kessels bildet eine hübsche blumige Waldwiese; das Gras wächst üppig darauf und ist reich mit Blumen durchwirkt.

Zwei Männergestalten sind von oben in dem „Kessel“ zu erblicken. Die eine liegt auf den Knieen und hantiert am Boden, die zweite steht in gebückter Haltung daneben.

Alix wird es schwindlig, ihr ist, als drehten sich die Kesseltannen in einem wilden Reigen um sie her, als käme die Waldwiese ihr entgegen. Sie beißt die Zähne zusammen und steigt mit wankenden Knieen den Abhang hinunter.

Natürlich bemerken die beiden Herren, die ihr den Rücken wenden, ihr Nahen auf dem weichen Waldboden nicht. Auch dann nicht, als sie dicht neben dem Knieenden steht und auf die regungslose Gestalt, die er in den Armen hält, heruntersieht.

„Doktor Petri!“ sagt Alix’ Stimme, die seltsam verändert klingt, leise.

Der Kopf des Arztes fährt überrascht herum – seine Hände lassen den hilflosen Mann nicht los.

„Baroneß – Hofmann! Wie kommen Sie denn hierher?“

Alix winkt nur mit der Hand ab, zum Zeichen, daß dies ja ganz gleichgültig sei. Sie beachtet es auch nicht, daß der gebückt stehende Herr sich hastig emporrichtet und sie ehrerbietig grüßt.

„Ist Gefahr da? Lebensgefahr?“

„Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen,“ antwortet Doktor Petri. „Ich habe mich damit begnügen müssen, die Wunde möglichst sorgsam zu verbinden, ich kann hier den Sitz der Kugel nicht feststellen und sie nicht ohne die nötigen Hilfsmittel und Vorkehrungen entfernen. Eine leichte Wunde ist es wohl keinesfalls – er hat eine tiefe Ohnmacht. Herr Amelung, Herrn Harnacks Sekundant, ist zum Wagen gegangen, Polster und Decken, sowie ein paar Stangen zu holen, damit wir ihn bequemer tragen können. Er muß bald zurück sein. Unterdessen habe ich unserm Verwundeten den Verband angelegt, und Herr Lieboldt, der ihm als Sekundant diente, hat mich dabei unterstützt!“

Der junge Techniker verneigte sich abermals tief vor Alix und erhielt ein zerstreutes Kopfnicken zum Dank.

„Und wo ist sein –“ sie hatte sagen wollen „sein Mörder“, unterdrückte das Wort aber noch rechtzeitig, „wo ist der – andere?“

Doktor Petri hob ein wenig die Schultern. „Natürlich fortgegangen. Dieser Anblick mußte ihm doch recht peinlich sein!“

Alix sah, ohne zu antworten, auf das sonst so lebensvolle, bewegliche Gesicht nieder. Wie aus Marmor gemeißelt war es anzusehen, die edlen, feinen Linien zeichneten sich scharf ab, das lockige Haar lag wirr über die Stirn gebreitet.

Alix fühlte die aufquellenden Thränen kommen und wandte sich hastig ab.

„Baroneß sollten lieber nicht hier bleiben und dies mit ansehen,“ sagte Doktor Petri mitleidig. „Zu helfen giebt es vorläufig nichts –“

Das junge Mädchen schüttelte nur den Kopf; sprechen konnte es nicht. Der Ruf des Kuckucks klang abermals durch die Waldesstille. Sollte er Antwort geben, wenn man ihn fragte, wie lange der wunde Mann, der hier am Boden lag, noch zu leben hätte? – „Mein Groom ist hier in der Nähe mit den Pferden!“ brachte sie endlich mühsam hervor. „Ich hatte einen Frühritt durch den Wald unternommen. Wenn er sich irgendwie nützlich machen kann –“

„Gewiß! Er kann uns helfen, den Patienten zu tragen. Je mehr Hände dabei zufassen, um so mehr wird der Transport erleichtert.“

„Lauf’ hin, Junge, und hol’ den Reitknecht hierher!“ gebot Alix dem dicht hinter ihr stehenden Paul Semmling, der mit weitgeöffneten Augen die seltsamen Vorgänge verfolgte. „Du weißt, wo er steht. Er soll hierherkommen, so rasch er kann!“

Der Arzt blickte dem lautlos davonhuschenden Barfüßler mißbilligend nach.

„Wir haben ungewöhnlich viel Publikum!“ sagte er halblaut. „Die Geschichte wird in der Kolonie herum sein, ehe zwei Stunden vergehen. Na, schließlich ist es einerlei. Ein Geheimnis kann solch’ ein Duell niemals bleiben!“

Sie kamen fast gleichzeitig von verschiedenen Seiten an – Ingenieur Amelung mit seiner Last und der Groom. Doktor Petri traf sofort geschäftig seine Anordnungen. Die Stangen wurden zusammengebunden und große Tannenzweige von den zunächststehenden Bäumen darübergelegt. Sie legten alle mit Hand an, die drei Herren und Tommy, als sie den Bewußtlosen vorsichtig auf die improvisierte Tragbahre hoben und mit Kissen aus dem Wagen stützten.

Langsam setzte sich der kleine traurige Zug in Bewegung. Alix führte die beiden Pferde am Zügel nach. „Rebell“, der mit leisen Klagelauten die Tragbahre umkreiste, legte sich von Zeit zu Zeit platt auf den Boden und stieß ein langgezogenes Winseln aus.

Einmal hatte Alix Doktor Petri leise gefragt: „Wohin wollen Sie ihn bringen?“ und auf seine Antwort „Nach dem Josephsthaler Krankenhause“ hatte sie rasch und noch leiser, so daß nur der Arzt es verstand, erwidert: „Ich wünsche, daß er nach dem Schloß gebracht wird!“ Doktor Petri hatte nichts darauf gesagt, nur von der Seite einen Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens geworfen. Da war dies Gesicht plötzlich tief errötet. –

Durch Sonnenschein und Waldesduft trugen sie ihn, der beides so sehr geliebt. Die kleinen Vögel flatterten immer mit, als wollten sie ihm das Geleit geben, und als sie an der Grenze des Waldes angelangt waren, wo der Wagen sie erwartete, hörten sie immer noch den Ruf des Kuckucks zu sich herübertönen.

(Schluß folgt.)


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Nervenheilstätten für Unbemittelte.

Von Dr. P. J. Möbius.

Es sind recht viele Leute krank. Die einen Krankheiten kommen und gehen wieder, die andern dauern lange, enden unter Umständen erst mit dem Leben. Unter den letzteren, den sogenannten chronischen Krankheiten, gehören zu den wichtigsten die Tuberkulose einerseits und die Nervenkrankheiten im weitesten Sinne des Wortes anderseits. Beide machen im allgemeinen die Menschen arbeitsunfähig, beide werden vererbt, aber jene tötet, diese töten in der Regel nicht. Darum erscheint die Tuberkulose schrecklicher und man erstrebt mit besonderem Eifer ihre Bekämpfung, gründet für Tuberkulose zahlreiche Heilanstalten.

Für die Nervenkranken hat man bisher recht stiefmütterlich gesorgt. Zwar einem Teile von ihnen, den sogenannten Geisteskranken, gegenüber gilt das nicht; sie sind sogar diejenigen Kranken, für die in unserm Jahrhundert am meisten gethan worden ist: viele vortreffliche Heilanstalten sind ihnen gewidmet und es ist dafür gesorgt, daß auch der Aermste auf allgemeine Kosten so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0736.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2023)