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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Delphine noch so lustig im weißen Kielwasser schnalzen. Es war wie ein schwimmendes Lazarett. Es erzeugte geradezu Ekel und Aerger. Man kam sich wie ein Gefangener vor.

Du bist ja auch auf dem besten Weg, ein Gefangener zu werden, ging es dem einsamen Mann durch den Kopf, der vorn an den nassen Anker gestützt in den Tanz der Wellen hinaussah. Ein Gefangener aus freiem Willen. Oder vielmehr: dein Wille, der starke und freie, ist durch Krankheit und Ermattung gebrochen. Du sehnst dich nach Ruhe! Das beweist schon, daß andere Mächte in dir mehr zu sagen haben als du selbst, Mächte von außen, die dich schmeichelnd bei der Hand fassen und hinabführen ins Philisterland, in diese schwächliche, gleichgültige Menschheit hier ringsherum, mit der du nichts gemein hast!

Nein, wahrlich nichts! Sein Trotz wurde immer stärker. Wer spielte eigentlich hier mit ihm, lockte ihn auf dies Jammerschiff und weiter in die bekannte kleinste Hütte, die Raum für ein liebendes Paar bietet? War er der Mann, so mit sich schalten und walten zu lassen, er, der der allmächtigen Natur selbst seinen Willen aufgezwungen, ihre unnahbarsten Berghöhen erklommen, ihre fernsten, im Schleier des Urwaldes verborgenen Geheimnisse enthüllt hatte? Er wußte, sowie er sein „Ich will nicht!“ sagte – da war er wieder frei, und immer deutlicher lag das Wort auf seinen Lippen.

Es gab ein Dichterwort:

„Der weite Himmel ist des Adlers Bahn,
Die weite Welt des Edlen Vaterland.“

Jawohl, die weite Welt! Da grüßte sie ihn wieder, hier, wo Europa und Afrika sich einen, im Brausen der Brandung, im Lachen des Sturms, im Trotze sonnengebadet zum blauen Himmel aufsteigender Steinkolosse. Dort hinten wuchs es gewaltig aus der blauen See. Dreifach gezackt schaute der Felsen von Gibraltar gebieterisch über die Länder und Meere, die Stadt schmiegte sich, in grüne Gärten gebettet, an seinen Fuß und davor flimmerte es von dem Gewirr der Rahen und Masten, dampfte es aus Dutzenden von Schloten und ankerten weithin die Schiffe aller Völker im Hafen von Gibraltar.

Als der verspätete Dampfer das andalusische Ufer mit seinen öden Weidesteppen und zerfallenen Wachttürmen erreicht hatte und in die mächtige Bucht einfuhr, dämmerte es schon stark. Die am Eingang ankernden britischen Panzer, die mehr wie unwahrscheinlich große, mit allerhand Buckeln und Auswüchsen gezierte Bügeleisen als wie wirkliche Schiffe auf dem Wasser lagen, waren noch deutlich zu erkennen. Aber der Mastenwald des Handelshafens dahinter verschwamm schon in dem Dunkel, das wie der Schatten des darüber ragenden Bergkegels vom Himmel niedersank, und drüben überm Meer ließ nur noch ein unbestimmter Schein, die Hafenlichter von Ceuta, die Nähe Afrikas erraten.

Er blickte zurück. Dort lag der schwarze Erdteil, der ihn wiederum zwei lange Jahre festgehalten hatte. Noch einmal war er seiner tödlichen Umarmung entgangen. Würde er ihn wiedersehen? Die Kraft finden, wieder hinauszupilgern in das Reich der Abenteuer und Gefahren, in das Leben voll seltsamer Buntheit, in das es den Jüngling unwiderstehlich zog, das der gereifte Mann mitten in allem Glück und aller Ruhe nicht mehr entbehren konnte?

Die Sehnsucht ward stark in ihm. Er schaute finstern Gesichts nach rückwärts, in die Nacht hinaus, die Afrika verhüllte.

Und es war, als teilte sich das Dämmern über dem Meer. Etwas Weißes war darin sichtbar, ein schlankes, schneeig leuchtendes Ding, das, rasch aus der Richtung von Ceuta näher und näher kommend, mehr wie ein großer Märchenvogel über die Wellen hinzugleiten als sie zu durchschneiden schien. Jetzt tauchte es voll aus dem Schatten auf, mit seinen zurückgelegten Masten, dem überschlanken, schmalen Schiffsrumpf, dem lautlosen Flug ein Bild eleganter Kühnheit, wie geschaffen, nach freier Laune die Meere zu durchkreuzen und Anker zu werfen, wo die Gunst des Augenblicks lächelt.

Jacht „Liberty!“ – Er kannte sie wohl! Und er wußte ja auch, daß der Petersburger Petroleumkönig mit ihr seine Tochter und deren Freunde von Ceuta hatte abholen wollen. Wäre er deren Einladung gefolgt, dann fuhr er selbst jetzt auf dem kecken Renner durch die Fluten, statt an Bord dieses schmutzigen, rollenden Krankenhauses mit seiner rings im Dunkel ächzenden Menschheit.

Jählings erfaßte ihn jetzt, während die Jacht weiß, rasch und schweigsam wie ein Geisterschiff im aufgehenden Mond an ihnen vorbeiglitt, ein Gefühl der Reue. Er hätte gewünscht, an Bord zu sein. Und mit Angela zusammen. Noch einmal bot ihm das Schicksal die jüngst in Tetuan scheinbar unwiederbringlich versäumte Gelegenheit. Eine bessere als je! Hier auf dem Schiff konnte ihm Angela nicht entfliehen. Wohin sie floh, er fuhr mit. Er erzwang sich von ihr die Aussprache und vielleicht den Sieg.

Warum sollte er eigentlich nicht an Bord gehen? Willkommen war er dem Petroleumkönig gewiß. Er sah, wie der weiße Schatten in der Ferne, zwischen den farbigen Laternen anderer Dampfer still lag, und hörte das kurze Rasseln des Ankers. An Land ging die Gesellschaft heute gewiß nicht mehr, die ja auf der Jacht weit mehr Bequemlichkeit fand als in den dürftigen Hotels von Gibraltar. Er traf sie sicher beim Diner vereinigt, weitgereiste, die Welt überblickende Menschen in tadellosem Frack und weißer Binde, Angelas Madonnengesicht und silberhelles Lachen dazwischen. Und hier …

Er schaute umher. Es kam jetzt, wo das Schiff in ruhigerem Hafenwasser fuhr, allmählich Leben in die Gesellschaft. Wie wenn Tote aus ihrem Schlafe erwachen, lugten bleiche Gesichter aus den zurückgeschlagenen Hüllen und richteten sich steifgewordene Gestalten langsam auf. „Jräßlich! Jräßlich!“ tönte die Klage des Majors und dahinter das beruhigende Baßgemurmel seiner Freundin. „Jetzt sind wir da!“ hörte er ihre Stimme. „Wir liegen schon still. Steh’ auf, Hilda! Was hast du denn schon wieder, daß du so jammervoll dreinschaust? Und du, Klara … es ist Zeit!“

Ringsum ein Frösteln, ein klägliches Lächeln, schlechte Witze, ein herdenartiges Gedräng am Fallreep, wo die Ruderboote harrten, die auf der wohl viertelstündigen Fahrt bis zur Alten Mole den noch enger als bisher zusammengepferchten Touristen unfehlbar eine neue Auflage der Seekrankheit bescheren mußten – nein, der Gedanke an dies Zukunftsbild entschied seinen Entschluß. Er winkte den an Bord klimmenden Agenten des Hotels heran, übergab ihm sein Gepäck und brachte mit seiner Hilfe, ehe die große Masse der Seekranken mobil wurde, die Damen und den Major in dem ersten, vom Schiff abstoßenden Kahn unter. Noch ganz betäubt ließen sie alles mit sich geschehen. Erst als der plumpe Kasten schon frei im Ruderschlag schwankte, hörte er Klaras Stimme.

„Sind Sie denn nicht mit?“ rief sie herauf.

„Nein, ich komme nach! Ich habe noch etwas zu thun!“

„Auf dem Schiff? Haben Sie etwas vergessen? Hier haben wir ja Ihre Sachen!“

Er wollte nicht heucheln. „Ich mache rasch einen Besuch auf der Jacht ,Liberty‘,“ rief er hinunter. „Auf Wiedersehen nachher!“

Es kam keine Antwort und der Kahn verschwand im Dunkel.


12.

Im Dämmerschein des gedämpft aus ihren Luken strahlenden elektrischen Silberlichts lag die „Liberty“ wie ein großer, weißer Schatten über der nachtblauen See. Die Wogen, unter deren Rauschen der heransteuernde Nachen ungestüm schwankte, spielten nur mit dem geschmeidigen Leib des Oceanrenners, daß er sich wohlig und träumerisch in ihnen wiegte und hoch oben die bunten Signallaternen der Masten in sanftem Schaukelschwung vor dem Sternengeglitzer auf und nieder glitten.

Die Thüre der Bordwand war geöffnet, das Fallreep herabgelassen, als erwarte man den späten Gast. Aber kein Mensch war zu sehen. Nur von dem Vorderteil des Schiffes klang das Raunen tiefer Männerstimmen – wachthaltende Matrosen, die da irgendwo, ihr Priemchen kauend, zwischen Taurollen und Fässern saßen.

Der Fremde brauchte ja auch keinen Empfang durch das Schiffspersonal. Er war ja nur zu gut zu Hause in diesem schwimmenden, kostbar eingerichteten Gebäude, das seine Bewohner fügsam unter der Drehung des Steuerrades von einer Küste zur andern trug. So entlohnte er den Bootsführer, klomm

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